Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Claudel, Philippe – Brodecks Bericht




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Claudel, Philippe – Brodecks Bericht

Beitragvon tom » 24.12.2007, 00:59

Vor zwei Jahren war Brodeck als Ueberlebender eines Lagers beim Nachbarvolk und Feinde im Kriege in sein Dorf zurueckgekommen. Im Lager hatte er Unsaegliches erlebt: Er wurde « Hund Brodeck », der an der Leine spazieren gefuehrt wurde und « ein Nichts war ». Im Moment seines eigenen Schreibens und Nachdenkens ueber das Geschehene und Gewesene soll Brodeck parallel auf den Auftrag des Dorfes hin einen Bericht (Rapport) schreiben ueber das, was am Vortage passiert ist, damit die anderen auch wissen koennen, wie und warum geschehen ist, was geschehen ist: Quasi die versammelte maennliche Dorfgemeinschaft hat sich des Mannes entledigt, der vor einigen Monaten als Fremder in ihr kleines, so abgeschnittenes und auf sich selbst zentriertes Dorf gekommen war. Sein Name (im franzoesischen Original) ist der Anderer. Brodeck wird die Zeugnisse zusammenstellen. Gleichzeitig aber schreibt er eben auch offen in einer gewaltigen Erinnerungsarbeit (fuer wen?), seine Geschichte: sein Kommen als Kind in dieses Dorf, begleitet von der alten Fedorina, auf der Flucht in einem anderen Kriege; das Kennenlernen seiner Frau Emilia, Figur der Liebe, die ihn mitten im Dunkel der Lager hat aushalten lassen; die verschiedenen Besuche und Kontakte im Dorf, darunter natuerlich diese Aussenseiterfiguren wie eben der Anderer, die gerade ihm irgendwie nahe standen. Und es waechst der Eindruck der Bedrohung durch die Dorfgemeinschaft, die anscheinend geeint gegen das Fremde und Andere steht, und so – auf schreckliche Art und Weise – dem « Fratergekeime » gleichen, die Tod ausgesaet und Lager errichtet hatten. Der Anderer ist der unertraegliche Spiegel, in dem man sich sieht, der letzte Anruf, die letzte Einladung Gottes... Und ist Brodeck nicht letztlich in seinem Anderssein ebenso ein Fremder (geblieben)? Nicht nur durch sein spaetes Kommen ins Dorf, sondern auch eine andere Zugehoerigkeit? Wie wird es fuer Brodeck enden, oder weitergehen? Wie wird er sich seiner Aufgabe entledigen?

Wie Claudel dieses Buch meisterhaft mit Rueckblenden, Querverweisen, Gedankensplittern, Erinnerungen und Parallelen aufbaut ist einfach meisterhaft und fuer mich ein Genuss. Dunkel, dunkel, ja bis an den Abgrund der Schlechtigkeit und der menschlichen Niedrigkeit ist ein Grossteil des Geschehens. Wenn es aber dieses Boese gibt, wird es auf beiden Seiten dargestellt: Nicht nur beim verhassten Feind, sondern quasi in der eigenen Mitte, und zwar in beaengstigender Konzentration. Und doch ist da auch das Helle, in dem der Autor den ein oder die anderen beschreibt, insbesondere das Kind als ewiges Zeichen einer Verheissung. Inmitten eines anscheinend durch und durch makabren Geschehens koennte man abschnittsweise wunderbare Beobachtungen zitieren. Die Sprache ist – wie mir auch ein Franzoesischstaemmiger mitteilte – einfach, doch sehr schoen. Sie laedt bisweilen zum lauten Lesen ein, so gut klingen die Saetze. Fuer dieses Buch schaffte Claudel eine imaginaere (und doch irgendwie recht klar zu identifizierende) Landschaft, irgendwo im Grenzgebiet zwischen zwei Voelkern, die einander aber irgendwie verwandt sind. Er schafft eine ganze Fuelle an Woertern in einer Sprache, die so nicht existiert, die man aber bei gutem Willen verstehen kann. Mit diesem Roman will Brodeck seine Trilogie ueber die grossen Kriege/Genozide des XX. Jahrhunderts mit einer ebormen Einladung zur steten Erinnerung, des Eingedenkseins abschliessen (Monsieur Linh, Die grauene Seelen). Es ist ihm meisterlich gelungen.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Broché: 400 pages
Editeur : Stock (14 août 2007)
Langue : Français
ISBN-10: 2234057736
ISBN-13: 978-2234057739
tom
 

von Anzeige » 24.12.2007, 00:59

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Beitragvon Salome » 24.12.2007, 07:25

1000 Mal Danke für die schöne Rezi, Tom! Selbstverständlich steht das Buch ganz oben auf meiner Wunschliste. Leider hat sich der Kindler-Verlag, trotz einiger E-Mail-Anfragen, noch immer nicht zur Veröffentlichung geäußert. :-(
Aber ich bleibe dran... :mrgreen:
Salome
 

Beitragvon wolves » 24.12.2007, 12:16

@Tom: Vielen, vielen Dank für deine tolle Rezi! Ich sitz grad da und bedauer wieder so ein Fremdsprachenmuffel zu sein.

@Salome: Ich hätte da einen Vorschlag :idea: Wenn du mir die eMail-Adresse vom Kindler-Verlag gibst, könnte ich dort auch mal ganz lieb nachfragen, ob sie nicht mal ein so tolles Buch in Deutsch veröffentlich wollen. Immerhin ist es ja, wie Tom schreibt, eine Trilogie.
Und wenn mir jemand beim Formulieren eines Textes helfen könnte, damit sich das nicht so abgehakt à la wolves anhört 8)
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon tom » 24.12.2007, 15:42

wolves hat geschrieben: Immerhin ist es ja, wie Tom schreibt, eine Trilogie.


So hat es Claudel selber ja in jenem Interview in "La Vie" gesagt, das Salome in ihrem Blog veroeffentlicht hat. Von der Thematik und gewissen Ausgangssituationen stimmt das eben einfach.
Doch selbst unabhaengig von einer Trilogiezugehoerigkeit wird es der "Rapport" verdienen, uebersetzt zu werden.
tom
 

Beitragvon wolves » 27.11.2008, 09:53

Was entdecke ich da gerade bei Amazon? :D
"Brodecks Bericht" erscheint im Juli 2009 beim Kindler Verlag. Ich habe mich mal registrieren lassen, dass man mich benachrichtigt sobald das Buch verfügbar ist.
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon Krümel » 27.11.2008, 11:25

wolves hat geschrieben:Was entdecke ich da gerade bei Amazon? :D
"Brodecks Bericht" erscheint im Juli 2009 beim Kindler Verlag. Ich habe mich mal registrieren lassen, dass man mich benachrichtigt sobald das Buch verfügbar ist.


Hier könnte ich nachfragen, ob wir wieder ein Reziexemplar bekommen :wink: Aber dann müsste einer eine Rezi dazu schreiben :mrgreen:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon wolves » 27.11.2008, 13:01

Falls das ein Wink mit dem Zaunpfahl für mich wäre?
Öhm, ich bin nicht so die Rezi-Schreiberin :oops: Ich glaube, dass wäre nichts für mich. :oops:
Liebe Grüße
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Beitragvon Pippilotta » 27.11.2008, 14:44

ähm ... also ich könnte mich da durchaus breitschlagen lassen! :wink:
Herzliche Grüße
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Beitragvon Krümel » 27.11.2008, 16:55

Ich habe es mir notiert, hat ja noch ein wenig Zeit :lol:
BildLiebe Grüße,
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Re: Claudel, Philippe – Le rapport de Brodeck

Beitragvon Casoubon » 09.02.2010, 09:52

Wie schon an anderer Stelle geschrieben, wurde ich auf dieses Buch aufmerksam (bzw. richtig neugierig), da einige Krümels es in ihrer Highlights-Leseliste 2009 hatten.

Nach "Die grauen Seelen", "Der Junge, der in den Büchern verschwand" und "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" war dies mein 4. Roman von Claudel und wahrscheinlich der Beeindruckenste.

Bereits nach wenigen Seiten hat Claudel es geschafft, die Szenerie zu beschreiben, man meint die Stimmung des Dorfes zu spüren/ fassen zu können. Die Handlung - erzählt von Brodeck - spielt in verschiedenen Zeitebenen. Anfangs mag das etwas verwirren, da diese innerhalb eines Kapitel wechseln können, aber ich bin gut damit klar gekommen. Es offenbart sich, zu was Menschen fähig sind, wenn sie zuviel Macht oder auch zuviel Angst haben.

Ich habe die Lektüre sehr genossen, obwohl es eigentlich eine sehr düstere Handlung ist und es meist um Zerstörung geht - sei es die Vernichtung von Menschen und/ oder Tieren oder die inneren Verletzungen, die einen Menschen zerbrechen und zu einer lebenden Hülle ohne Herz/ Mitleid machen.

@Frage: Zu Beginn des Threades steht, dass es sich um eine Trilogie handelt. Kann mir das jemand näher erklären oder einen Link dazu schicken? Dankeschön im Voraus.

Ganz klar: ***** :thumleft:

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Re: Claudel, Philippe – Le rapport de Brodeck

Beitragvon Pippilotta » 09.02.2010, 19:09

Schön,Bine, dass dir das Buch auch gefallen hat!
Casoubon hat geschrieben:@Frage: Zu Beginn des Threades steht, dass es sich um eine Trilogie handelt. Kann mir das jemand näher erklären oder einen Link dazu schicken? Dankeschön im Voraus.


tom hat das in seinem Eingangsthread erwähnt, er meint, neben "Monsieur Lindh" (das vermutlich den Vietnam- oder Koreakrieg behandelt) und "die grauen Seelen" (Thema sind die Greuel des 1. Weltkrieges) hat "Brodecks Bericht" den 2. Weltkrieg zum Thema und werden somit die grässlichsten Kriege des 20. Jh. thematisiert. Im Internet habe ich aber dazu keinen Hinweis gefunden, doch Tom ist sehr belesen und lebt auch in Frankreich und ich denke, dass es nicht alleine auf seinen Mist gewachsen ist. Aber ich werde ihn bei Gelegenheit fragen ....
Herzliche Grüße
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Re: Claudel, Philippe – Le rapport de Brodeck

Beitragvon Casoubon » 09.02.2010, 19:17

Pippilotta hat geschrieben:Aber ich werde ihn bei Gelegenheit fragen ....


:danke:

Oh je, es frustriert mich grad ein bißchen, dass ich alle drei Bücher gelesen habe, aber diesen Zusammenhang nicht gesehen habe - vielleicht sollte ich gerade "Die grauen Seelen" noch einmal lesen, mir fehlt total die Erinnerung :motz: .

Edith: Ich :motz: gleich noch mehr - trotz aller Begeisterung habe ich im Moment keine einzige Szene mehr im Kopf :evil: - doofer Vergessenszwerg. Buch habe ich gerade bei TT angefordert.

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Re: Claudel, Philippe – Le rapport de Brodeck

Beitragvon Pippilotta » 18.02.2010, 08:14

Pippilotta hat geschrieben:Aber ich werde ihn bei Gelegenheit fragen ....


Tom hat mir einen Auszug aus einem Interview der Zeitschrift "La Vie" mit Claudel geschickt, wo Claudel selber Bezug nimmt:

M.C.: Gibt es nicht in ihrem Buch einen klaren Bezug zur Shoah?

P.C.: Dieser Roman schließt eine Trilogie ab, die ich mit „Die grauen Seelen“ und „Die kleine Tochter des Herrn Linh“ angefangen hatte. In diesen drei Erzählungen wollte ich die Ereignisse des XX. Jahrhunderts, die mich am meisten verfolgen, erforschen: der erste Weltkrieg; der Vietnamkrieg, den ich stets mit dem Khmer-Genozid (in Kambodscha) verbinde und schließlich der Nationalsozialismus. „Le rapport de Brodeck“ betrifft so also die Shoah, geht aber noch weiter. Für mich ist es vor allem die Erforschung des Unmenschlichen, das vorher existiert hat und weiter vorhanden sein wird. Es gab Pogrome seit Jahrhunderten und es wird weiterhin Nachbeben geben. Das Wort „Jude“ wird niemals im Roman ausgesprochen, da ich wollte, dass der Leser darin jeden Fremden, Ausländer wieder erkennt: jenen, der anders ist, der Andere. Das Buch geht von der Beobachtung einer Gesellschaft aus, die den anderen nicht toleriert. Es verweist also auf die Gegenwart. Wie empfängt man heute den Fremden? Ich mag es, die Leute dahin mitzuziehen, wo sie nicht unbedingt gegangen wären... Der rote Faden liegt in der Schuldhaftigkeit und dem Übermaß an Gedächtnis. Muss man sich an alles erinnern?
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Claudel, Philippe – Brodecks Bericht

Beitragvon Siebenstein » 18.02.2010, 08:48

Danke fürs Nachfragen @Pippi. :thumleft:

Herzlichen Dank und viele Grüße an Tom, wenn Du ihn mal wieder sprichst. Den Zusammenhang hätte ich so wahrscheinlich nicht hergestellt, dafür habe ich die drei Bücher auch mit zu großem Abstand gelesen. Aber jetzt so im Nachhinein klingt es völlig einleuchtend und schlüssig.

Liebe Grüße
Siebenstein :wink:
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Re: Claudel, Philippe – Brodecks Bericht

Beitragvon wolves » 07.04.2011, 08:25

Eindeutig eines meiner Highlights, in diesem Jahr!

Erst habe ich mich ziemlich gegen diese völlige Düsternis gestellt. Und dann hat es Stück für Stück entsprechende Assoziationen bei mir ausgelöst. Es ist ja eher wie ein, ja wie soll ich schreiben? Ja es ist eher wie ein Gemälde, das Gefühle auslöst. Die Wirkung beginnt dann, wenn man es nicht mehr liest. Claudel beschreibt ja keinen realen Ort. Das Dorf kann einfach überall sein. Und vor allem in unseren Köpfen. Und das ist schon ziemlich erschreckend. Man wehrt sich gegen den Gedanken auch schuldig sein zu können, aber wer will von sich sagen, dass er davon immer frei wäre? Der Hass gegen alles Fremde, alles von außen kommende, der Bewohner ist unglaublich. Und dazu noch, dass der „Andere“ ihnen sozusagen den Spiegel vorhält, mit seinen Gemälden. Mit dem was sie dann sahen, kamen sie noch weniger zurecht und mussten zerstören und letztendlich töten. Nur nicht der Wahrheit ins Auge blicken, denn das könnte ja Veränderung auslösen.
Das Ende war auch eher verstörend. Ich glaube nicht daran, dass die kleine Familie des Brodecks noch gelebt hat. Sie waren „nur“ noch Geister seiner Erinnerung, die er mitnehmen konnte.
Liebe Grüße
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