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Eggers, Dave - Weit Gegangen




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Eggers, Dave - Weit Gegangen

Beitragvon mombour » 31.08.2012, 14:01

Dave Eggers: Weit Gegangen

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Es passiert immer seltener, dass ich einen Roman entdecke, der nach meinen Lesegeschmack konzipiert zu sein scheint. Dave Eggers' Roman entfaltet sich von Beginn zu einem besonderen Leseerlebnis. Die eher nüchtern distanzierte Sprache, die die wahre Lebensgeschichte von Valentino Achak Deng erzählt, der als Kind seine Flucht aus dem sudanesischen Bürgerkrieg, über Äthiopien, Kenia und seine Eindrücke in den USA erzählt, sorgt für einen angenehmen Lesefluss, andererseits erschüttert der Inhalt. Unzählige Male ist der Junge haarscharf dem Tod entkommen. Valentino Achak Denk sagt selber im Vorwort, er und der Autor wollten anderen begreiflich machen, "welche Gräuel die jeweiligen Regime des Sudan vor und während des Bürgerkriegs begingen."

Valentino Achak Denk wird in den USA in seinem Hause überfallen und ausgeraubt, liegt gefesselt am Boden und erinnert sich dabei an seine Flucht aus dem Sudan. Das Wechselspiel von der rauhen Gegenwart und den Kriegserinnerungen ist herrlich verflochten. Zeitenwechsel vollziehen sich immer sanft und ist. Niemals gibt es einen krassen Übergang. Gegenwart und Vergangenheit sind ein Strom. Im Gegensatz zu manch anderen Schriftstellern der Gegenwart sind hier Zeitsprünge immer leicht zu erkennen und bereiten keine Probleme.

Zwei Beispiele wie Eggers Breschen in die Vergangenheit schlägt:

Achak wird in seiner Wohnung in Atlanta von einem Jungen bewacht:

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Junge, der jetzt mit einer Fanta in der Hand wieder vor dem Fernseher sitzt, keine Ahnnung davon hat, was ich in Afrika erlebt habe.“ (Seite 51). An anderer Stelle wird erzählt, wie Achak auf die Couch blickt, auf der er mit Tabhita einmal zusammen saß. Er lernte sie in dem Flüchlingslager von Kakuma (Kenia) kennen.

Von der Lesbarkeit ist der Roman leicht zu verdauen, inhaltlich brutal und sehr tragisch, doch wird die Brutalität nicht voyeurmäßig ausgeweidet.

„Ich sah zu, wie er eine Frau niederitt, die zum Wald laufen wollte, und dann sein Schwert die Höhe hob. Ich blickte weg. Ich presste den Kopf auf den Boden und zählte bis zehn, und als ich wieder aufschaute, sah ich nur noch ihr blassblaues Kleid ausgebreitet auf der Erde.“ (Seite 143)

In Khartoum sitzt eine islamistische Regierung, die die Scharia einführen will. Diese Araber befinden sich seit 1983 mit den Rebellen, der SPLA, aus dem Südsudan, in einem brutalen Bürgerkrieg. Die Murahilin, Reiter, die von der Regierung eingesetzt werden, fallen über die Ortschaft Marial Bai her, Dengs Geburtsort, töten diejenigen, die gekämpft haben, andere werden nach Karthoum abgeschleppt, auch Amath, die erste Frau in seinem Leben, von der der Junge Achak Deng sehr beeindruckt war. Auch sie wurde wie ein Stück Teppich auf den Sattel eines Pferdes gebunden und verschleppt. Das Dorf abgebrannt, der Junge auf der Flucht. Ein Zug von dreihundert Jungen durch den Südsudan, Richtung Äthiöpien mit allmöglichen Gefahren und immer mehr schließen sich an. Jungen werden von Löwen gerissen, oder sterben, weil sie verhungern, austrocknen. Dengs Freunde sterben alle. Jeder auf andere grausame Weise.

„Er hatte nur aufgehört zu gehen sich unter einen Baum gesetzt, die Augen geschlossen und war gestorben. Ich war mit einem fingergroßen Stück Fleisch zurückgekommen, um es mit ihm zu teilen, und sein Körper war schon erkaltet.“ (Seite 318).

Sehr bewegend, wie er seinen Freund notdürftig beerdigt, damit nicht die Geier sofort über ihn herfallen.

Achak Denk träumt aber vom Reichtum Äthopiens. Dort würde er wie in Marial Bai in einem Bett schlafen. Der Anblick eines toten Soldaten, bringt. seinen Glauben daran aber ins wanken. Noch langsamer und schleppender werden seine Schritte.

In Äthiopien ist Achak enttäuscht. Dort gibt es nur einen Fluss. Sonst fast nichts. Doch bleiben sie dort, brauchen nicht mehr flüchten, was ihm seltsam vorkommt. Ein Camp wird aufgebaut, alles wird durchorganisiert. Gruppen werden gebildet. Jeder im Camp bekommt seiner Aufgabe. Essen holen, Hütte ausbessern, Moskitonetze aufhängen, Waser holen usw. Es entfaltete sich eine Siedlung. Dort in Pinyudo hat er Heimweh, und als ihm eine Frau dort an die Backe streichelt und sagt, er könne jeden Tag bei ihr zu Mittag essen, denkt er an seine Mutter und vermisst sie sehr. Er kam jeden Tag zu ihr, setzte sich auf ihren Schoß und fühlte sich wie zu Hause wie in Marial Bai.

Solche sanftmütigen Szenerien, die an das Herz eines Lesers schlagen mögen, wechseln ab mit ungeheuerlichen Begebenheiten. Er hat gerade den blutigen Fluss, der ihn nach Kenia bringt, mit Mühen überlebt, Glück gehabt, dass ihm kein Korokodil oder die Kugel eines Verfolgers erwischt hat, da begegnet er wieder einer Frau, allerdings eine mit einer blutrünstige Mörderhand und in Kleidung eines äthiopischen Soldaten. Mit dem Lockruf, sie sei ihre Mutter, kommen sie zu ihr hin, dann bückt sie sich, hebt ein Gewehr aus dem Gras und schießt einen Jungen ins Herz. Flucht vor Gewehrkugeln.

Von Pinyudo gibt es kein zurück Eine Rückkehr in den Sudan bedeutet den Tod:

„Es war als seinen wir die einzigen Überlebenden, als müsse ein neuer Sudan einzig und allein durch uns erschaffen werden, wenn wir irgendwann in ein kahles Land zurückkehren würden. Das zum Neubeginn bereit war.“ (Seite 378).

Das Lager entwickelt sich zu einer militärisch gedrillten Stätte, und es wird klar, wohin die Reise gehen soll. Die Jungen sollen zum Soldaten gedrillt werden, damit sie sich den Sudan wieder zurückholen können. Die SPLA hatte diesen Plan entwickelt, die Rebellen, die gegen die islamistische Regierung kämpfen.

„Aber es gab auch viele wie mich, die nichts mit dem Krieg zu tun haben wollten...Seit Monaten hatte ich Gerüchte über das Elend in Bonga gehört, wie hart die Ausbildung dort war, wie streng und unerbittlich....Dennoch, jede Woche verließen Jungen die weitgehende Sicherheit und Geborgenheit Pinyudos aus freien Stücken, um sich in Bonga ausbilden zu lassen. Auf diese Weise verloren wir zwischen Sommer und Winter drei der Elf und alle wurden letzten Endes getötet...Jungen geben nun mal sehr schlechte Soldaten ab(Seite 472).“

„Weit Gegangen“ ist ein Roman nach Fakten, mischt sich aber auch mit Fiktion. Das ist Dave Egger's erster Roman einer Serie, die sich mit Kriesenherden in der Welt beschäftigen. Der Leser bekommt durchaus ein plastisches Bild des Kriesenherdes Sudan. Vielleicht kann „Weit Gegangen“ als moderner historischer Roman bezeichnet werden, in historischen Romanen immer auch Fiktion steckt. Auf jedenfall ist der Roman zu empfehlen, weil er unseren Blick auf Afrika weitet und zeitgenössische Geschichte verarbeitet. Es ist nicht lange her. Erst am 09. Juli 2011 wurde der Südsudan eine eigenständige Republik und trennte sich von dem islamisch geführten Norden.
Der Roman ist sehr bewegend. Nur finde ich die Schliderung über die Ereignisse in dem Lager in Kenia zu sehr in die Länge gezogen.
Zuletzt geändert von mombour am 31.08.2012, 16:14, insgesamt 1-mal geändert.
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von Anzeige » 31.08.2012, 14:01

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Re: Eggers, Dave - Weit gegangen

Beitragvon Krümel » 31.08.2012, 15:22

Es freut mich sehr für dich, dass dir dieser Roman, ist es überhaupt einer?, so gut gefallen hat :thumleft:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Re: Eggers, Dave - Weit Gegangen

Beitragvon mombour » 31.08.2012, 16:20

Hallo,

Ja, es ist formal hundertprozentig ein Roman, beruht bloß auf wahren Begebenheiten. Von diesem Autor lese ich noch mehr. "Zeitoun" wäre das nächste Buch von Eggers, welches mir vorschwebt. Der Roman spielt in New Orleans. Das Lebensschicksal einer Familie nach dem Hurrikan "Katrina".

Liebe Grüße
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Re: Eggers, Dave - Weit Gegangen

Beitragvon Karthause » 31.08.2012, 17:54

Mombour, dieser Roman steht in diesem Jahr auch noch auf meiner Leseliste. Dank dir habe ich jetzt schon einen guten Vorgeschmack. :thumleft:
Viele Grüße
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