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Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon mombour » 02.09.2011, 10:44

Hallo,

mal wieder was Zeitgenössisches. Es ist kein Roman, kein Tagebuch. Vom Genre her formlos, passt es aber gut in diese Rubrik.

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Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

Arno Geiger hat ein literarisch formloses Buch über seinen Vater geschrieben. Es ist kein Roman, keine Fiktion. Der Vater leidet an Alzheimer Demenz, die Krankheit hier aber nur sekundär auftritt, in erster Linie es aber um das Verhältnis zwischen Vater und Sohn geht. Eine subtile Annäherung an den Vater, dessen Herkunft auch beleuchtet wird. Als die Krankheit einsetzt, der Vater seine ersten Aussetzer hatte, wird falsch reagiert. Der Vater wird für ein Fehlverhalten kritisiert, was durch seine Erkrankung verschuldet ist. So wird es in vielen Familien sich zugetragen haben, bis irgendwann die Erkenntnis einsetzt, der Vater ist krank. August Geiger geht immer mehr in sein Exil, in seine Krankheit, sodass er wie ein heimatloser sich nach Hause sehnt, obwohl er ja physisch zu Hause ist. Aber der Geist zerfällt, die ganze Persönlichkeit, und das ist die Fremde, die dieser Vater fühlt. Arno Geiger hat diesen Vorgang an sich sehr schön erzählt, warum er aber die Alzheimer Erkrankung zur Metapher erklärt, ist seltsam. Alzheimer als

Arno Geiger hat geschrieben:..ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen o
Orientierungsprobleme und Zukunftsängste.
(Seite 58).

Ich habe den Eindruck, mit diesem Gesellschaftsbezug soll der Text literarisch erhöht werden, denke ich bei diesem Zitat doch an Kafka. In meiner Rezension zu "Der Verschollene" schrieb ich:

mArtinus hat geschrieben:„...dass Kafka zu Beginn des 20 Jahrhunderts erschreckend in eine hochtechnisierte Welt sah, die den einzelnen Menschen, das Individium, unbedeutend erscheinen ließ.“

Ich gehe davon aus, Arno Geiger habe sich bewusst auf Kafka bezogen, ihn nur variiert, an einer anderen Stelle Kafka sogar wörtlich erwähnt wie auch andere Größen. An sich besteht aber kein Grund seine Bildung vorzuzeigen, wenn es um den eigenen Vater geht, der übrigens schon immer „einen Hang zum Eigenbrötlerischen hatte“, aus dem Dorf kaum herausgekommen sei. Einerseits Verständnis für die Situation des Vaters gezeigt wird, andererseits auf Grenzen gestoßen wird, wenn der Autor sich ärgert, wie überlegt doch manche Antworten seines Vaters erscheinen, außerdem am Rande schwelende Aggression brodelt, auf Seite 23 folgendes zugegeben wird:

Arno Geiger hat geschrieben:Hätte ich damals nicht mehrere Monate im Jahr zu Hause verbringen müssen, damit ich als Ton-und Videotechniker auf der Bregenzer Seebühne das Geld verdiente, das das Schreiben nicht abwarf, hätte ich einen weiten Bogen um das Elternhaus gemacht.


All das, obwohl auf Seite 11 noch zuversichtlich verkündet wird:

Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.


Ein redlicher Vorsatz, der sich nur teilweise erfüllt. Das Buch hat gute Ansätze, die dem Leser die Situation nahebringen kann, wie es sein kann, wenn ein Familienmitglied einer dementiellen Entwicklung ausgesetzt ist und irgendwann doch der Punkt erreicht wird, dass die Inanspruchnahme eines Pflegeheimes irgendwann nicht mehr abzuwenden ist. Aber, wie oben ausgeführt, auch ein Buch, was Fragen aufwirft, warum nur Arno Geiger dieses Buch geschrieben habe. Um seinetwillen oder zum Andenken an seinen Vater?

Arno Geiger hat geschrieben:Meine ganze Kindheit lang war ich stolz gewesen, sein Sohn zu sein. Jetzt hielt ich ihn zunehmend für einen Schwachkopf.
Es wird wohl stimmen, was Jacques Derrida gesagt hat: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt.

(Seite 23)
:stern: :stern:

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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Pippilotta » 04.09.2011, 10:04

Tja, was soll ich sagen .... die :stern: :stern: erschrecken mich jetzt doch ein bisschen :cry: :wink: , denn für mich ist dieses Buch eines der großartigsten, die ich in letzter Zeit gelesen habe.
Warum Geiger dieses Buch geschrieben hat? Ich denke, es war ihm ein persönliches Anliegen. Wie Du, mombour, auch vermutest, ist es ihm ein persönliches Anliegen, vielleicht auch etwas gutzumachen.Aber warum nicht? Wird nicht der Leser auch ein bisschen dadurch aufgerüttelt, nachzudenken? Geiger verherrlicht nicht, sucht auch keine Ausreden. Natürlich hätte er sich seine Sorgen, seine Gedanken von der Seele schreiben können, ohne es zu veröffentlichen. Ich glaube mich an ein INterview erinnern zu können in dem er mitteilte, dass er eigentlich diese Aufzeichnungen nicht in Buchform bringen wollte. Bereits während er "Alles über Sally" schrieb, begann er mit den Aufzeichnungen über die Krankheit seines Vaters zu schreiben.

Ob man ihm unterstellen kann, rein aus kommerziellen Gründen dieses Buch zu dieser Zeit, wo doch Alzheimer sehr "aktuell" ist, geschrieben zu haben? Das fällt mir schwer zu glauben, weil für mich Arno Geiger ein sehr ehrlicher, bescheidener Mensch ist. Aber vielleicht verkauft er sich auch gut, ich kann das nicht beurteilen.

Es ist keine Betroffenheitsliteratur, ganz im Gegenteil. Ich gehe nach der Lektüre des Buches etwas gelassener an den Gedanken heran, vielleicht selber bzw. im familiären Umfeld mit Alzheimer konfrontiert zu werden.
Herzliche Grüße
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Karthause » 04.09.2011, 10:20

Ehrlich gesagt, war ich auch irritiert von dieser Bewertung. Aber wie so oft, ist vieles Geschmacks- und noch mehr Ansichtssache. Und ein Künstler, egal ob Schriftsteller, Maler oder Komponiest wird nie dafür arbeiten, dass seine Werke unwahrgenommen in der Schublade verschwinden, der Gedanke an Kommerz MUSS auf der Tagesordnung stehen, den auch solche Menschen haben Bedürfnisse, die mehr oder weniger dringend befriedigt werden müssen. Ich würde keinem Künstler Glauben schenken, der behauptet, nur aus Freude an der Kunst zu arbeiten. Aber das ist meine ganz persönliche Sichtweise.

Allerdings hat Geiger für mein Empfinden dein von Seite 23 gewähltes Zitat im Laufe des Buches mehr als relativiert.
Viele Grüße
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Katia » 04.09.2011, 18:21

Pippi und ich haben wahrscheinlich eine persönlichere Beziehung zum Buch, weil wir jeweils auf Lesungen waren. Und zumindest bei mir Geiger sehr sympathisch rüber kam, ich gesehen habe wie er mit Geduld und Empathie auch auf ihm fremde Demenzkranke reagiert. Von daher fehlt zumindest mir eine gewisse Distanz zum Buch. Die Frage nach dem "Warum dieses Buch geschrieben wurde", hat mich weniger beschäftigt, vermutlich weil ich direkt nach der Lesung eine Antwort darauf gehabt hätte.

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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon mombour » 05.09.2011, 16:20

Hallo,

ein wenig Geschmacksache ist natürlich auch dabei. In der zweiten Hälfte des Buches lässt das Buch allgemein an Spannkraft nach. Die interessanteren Anteile sind mehr im ersten Drittel. Es ist ein seltsames Buch, denn ein Teil des Buches geht auf den Vater zurück, den er ja wohl zumindest sinngemäß zitiert. Das Buch lebt mehr vom Vater, als vom Autor. Das mein Eindruck. ich wollte es nicht zu gut bewerten, daraum 2 Sterne.

Liebe Grüße
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Krümel » 05.09.2011, 17:58

Also ich habe bisher nicht viel zu meckern, weder Herz-Schmerz, noch verharmlost der Autor die Krankheit, und da ich ja weiß, dass in Echt/Wirklichkeit der Vater noch lebt, es also nicht bis zum Schluss beschrieben wird - kann ich mir denken, dass das Buch ganz okay ist :wink:
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Krümel » 16.09.2011, 10:43

In dem Interview Arno Geiger im Gespräch mit Thea Dorn, da gab es starke Einblicke in die Unerreichbarkeit des Vaters. Er stand da wirklich wie ein Monolith, aus einem Guss, eher gefühlskarg, aber er hat den anderen, auch seinen Kindern, nichts auferlegt. Hier sehe ich eher die Situation wie bei den Manns, also Thomas Mann zu Klaus als bei den Kafkas. Aber das jetzt nur am Rande.

Auch ich habe das Buch geschenkt bekommen (dankeschön), selber hätte ich es mir zwar nicht gekauft, meine Bedenken gingen in die Richtung: Herz-Schmerz, Verunglimpflichung einer Person oder gar Verharmlosung einer Krankheit. Das alles hat sich nicht eingestellt, nein ganz im Gegenteil, ich bin tief in den Sog des Buches hineingezogen worden. Zu Beginn war es die Offenheit mit der der Autor über die Streitigkeiten und Streitereien berichtet hat. Man fand keinen Schnittpunkt mehr, der Vater tat Dinge, die vom Sohn als Trotz oder gar Aggression gegen ihn aufgefasst wurde, aber die Verantwortung gab der Vater nicht auf. Diese Situation, die sich immer am Anfang einstellt, wie das berühmte Katz und Maus-Spiel, wobei allerdings beide Parteien, Kranker sowie Angehörige, eher die Mäuse sind, das war sehr einfühlsam, authentisch ehrlich beschrieben und öffnete damit den Zugang zu Vater und Sohn.

Zur Frage warum schreibt der Autor darüber? Weil jeder Autor über Dinge schreibt, die ihm persönlich sehr bewegen, die Mittelpunkt seines Lebens sind? Ein Autoren-Zwang …

Und es ist dem Autor sogar sehr gelungen! Er zeichnet ein anmutiges Portrait über seinen Vater. Er transportiert die Liebe und Wertschätzung beiderseits. Nichts ist kitschig oder überzogen – sondern alles haftet auf dem realen Boden und dennoch geht das Buch unter die Haut. Kurz: mir hat es gut gefallen!
BildLiebe Grüße,
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Pippilotta » 16.09.2011, 11:22

Das freut mich sehr, dass Dir das Buch gefallen hat! Und ich finde Deine Gedanken zum Buch sehr treffend, und ganz toll zusammengefasst! Ich kann nur zustimmen ....
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon wolves » 17.09.2011, 13:39

Wo ist der "Gefällt mir"-Button, Krümel? Deine Gedanken zum Buch sind sehr treffend!
Liebe Grüße
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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Krümel » 17.09.2011, 14:30

:tanz1: Hach man versteht mich und stimmt sogar überein :grins:
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Re: Geiger, Arno - Der alte König in seinem Exil

Beitragvon Susannah » 17.09.2011, 19:12

Ich war ja auch bei einer Geiger-Lesung. Und zwar, bevor ich das Buch selbst gelesen habe. Ich habe es erst dort gekauft (und natürlich gleich signieren lassen). Auch ich fand Arno Geiger ausgesprochen sympathisch, seine Ausstrahlung sehr angenehm und beeindruckend und das Buch sowieso großartig. Aber er hat ja schon seit "Es geht uns gut" einen Stein bei mir im Brett.

Die Art, wie er mit der Krankheit umgeht und die Offenheit mit der er davon berichtet - auch in dem Gespräch zwischendurch - hat die Lesung zu einem ganz besonderen Erlebnis gemacht. Genau wie Krümel schreibt: Es wird nichts beschönigt, es wird nichts herabgespielt.

Wenn ich jetzt hier so über das Buch lese, bekomme ich sofort Lust, es nochmal zu lesen...
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