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Guenassia, J.-M. - Der Club der unverbesserlichen Optimisten




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Guenassia, J.-M. - Der Club der unverbesserlichen Optimisten

Beitragvon Karthause » 29.06.2012, 15:34

Der Roman beginnt mit einem Ende, der Beerdigung eines der ganz Großen, Jean-Paul Sartre, im Jahr 1980. Michel Marini nimmt daran teil und begegnet dort einem Bekannten aus alten Zeiten. Das ruft Erinnerungen hervor, über die Michel als Ich-Erzähler dieses Romans berichtet.
Die Handlung setzt im Jahr 1959 ein, Michel feiert seinen 12. Geburtstag. Der Leser begleitet ihn durch die Zeit des Erwachsenwerdens. Er stammt aus gut situiertem Haus, die Eltern betreiben ein sich stetig vergrößerndes Handelsunternehmen. Die Mathematikprüfungen besteht Michel nur bei Anwesenheit seines Banknachbarn, kurz gesagt, auf sich allein gestellt versagt er, dagegen sind seine Leistungen beim Kickern kaum zu übertreffen. Den heimischen Diskussionen über schulische Leistungen überdrüssig, begleitet Michel seinen älteren Bruder Franck immer häufiger zum Kickern ins Bistro „Balto“. Durch eine von ihm bislang nicht beachtete Tür gelangt er in ein Nebenzimmer, in dem sich eine illustre Gesellschaft von Emigranten aus dem Ostblock, Igor, der ehemalige Arzt aus Leningrad, Tibor, der homosexuelle Schauspieler aus Ungarn und Leonid, der einstige sowjetische Pilot, aber auch die intellektuelle Elite wie Jean-Paul Sartre und Joseph Kessel zum Schachspielen, Diskutieren, Erinnern, Philosophieren und nicht zuletzt zum Trinken treffen und den „Club der unverbesserlichen Optimisten“ bilden. An ihrer optimistischen Weltsicht können auch ihre oftmals schlechten Erfahrungen und ihre derzeitig schwierige Situation nichts ändern. In eingefügten Rückblenden erfährt der Leser von einem auktorialen Erzähler, warum die einstmals erfolgreichen Leute als fast mittellose Emigranten in Paris gestrandet sind. Nach und nach wird Michel der Club zum zweiten Zu Hause und dessen Mitglieder werden Freunde. Als Franck sich als Freiwilliger für den Algerienkrieg meldet, später desertiert und schließlich des Mordes angeklagt wird, legt sich ein Schatten über die scheinbare Familienidylle.
„Der Club der unverbesserlichen Optimisten“ ist ein in die Zeitgeschichte vom Ende der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre eingebetteter Entwicklungsroman. Der Autor, Jahrgang 1949, verknüpft das Erwachsenwerden Michels äußerst gekonnt mit dem historischen Geschehen. Dabei ist anzunehmen, dass eine Vielzahl persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen in diesen Roman eingeflossen sind. Die Handlung wirkt leicht erzählt, schreitet trotz der eingefügten Rückblenden stets voran und zeichnet ein brillantes Zeitportrait. Der Roman fesselt den Leser nicht durch actiongeladene Szenen. Er beeindruckt durch die ruhige Erzählweise und eine Handlung, die zum Ende hin dann auch noch dramatisch wird. Unaufdringlich bringt Jean-Michel Guenassia dem Leser auf literarische Weise den zur Zeit der Romanhandlung in voller Blüte stehenden Existentialismus nahe. Er greift die Gedanken Sartres und Camus auf, verwebt sie in seinem Roman und transportiert dadurch gekonnt den Zeitgeist und die Stimmung im Paris der 60er Jahre. Insofern ist dieses Debüt auch ein philosophischer Roman. Die Figuren scheinen aus dem Leben gegriffen, Verfolgte, Querdenker, Philosophen, Schachspieler, Einsame, Flüchtlinge, Menschen wie Du und ich, Franzosen Russen, Ungarn, Deutsche. Die Atmosphäre ist dicht und greifbar. Man meint, beim Lesen den Qualm der Gitanes erahnen zu können. Stilistisch ist dieser Roman sehr ausgereift. Es wechseln sich tiefgründige mit humorvollen Szenen ab, das trägt dazu bei, dass er sich sehr angenehm lesen lässt. Er widerspiegelt das gewisse Flair, das man, auch ohne Kenntnis des Handlungsortes, Paris zuordnen würde und das auch trotz der Übersetzung sehr präsent ist.
„Der Club der unverbesserlichen Optimisten“ ist ein Roman, der beste Unterhaltung mit der Vermittlung von Zeitgeschehen verbindet. Er hat mich über Tage gefesselt und mich zu weiteren Recherchen angeregt. Ich empfehle ihn sehr gern weiter, nicht nur an die Liebhaber der französischen Literatur.

Über den Autor (Quelle: amazon.de)
Jean-Michel Guenassia, geboren 1950 in Algier, lebt in Paris. Er war einige Jahre Anwalt und schreibt heute für Fernsehen und Theater. Die Veröffentlichung des Clubs, sein spätes Debüt als Romancier, erregte in Frankreich großes Aufsehen.

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Viele Grüße
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von Anzeige » 29.06.2012, 15:34

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Re: Guenassia, J.-M. - Der Club der unverbesserlichen Optimi

Beitragvon Coco » 29.06.2012, 18:21

Oh, dieses Buch wandert mal ganz schnell auf meine Wunschliste!

Danke Karthause :bussi:
Liebe Grüsse
Coco

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Re: Guenassia, J.-M. - Der Club der unverbesserlichen Optimi

Beitragvon Karthause » 30.06.2012, 08:43

Ich könnte mir gut vorstellen, dass es dir gefällt, Coco. :wink:
Viele Grüße
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