Krümels-Bücherwelt ...

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Lenz, Siegfried - Schweigeminute




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Lenz, Siegfried - Schweigeminute

Beitragvon Voltaire » 14.05.2008, 20:54

Titel: Schweigeminute
Autor: Siegfried Lenz
Verlag: Hoffmann und Campe
Erschienen: Mai 2008
Seitenzahl: 128
ISBN-10: 3455042848
ISBN-13: 978-3455042849
Preis: 15.95 EUR


Stella Petersen ist Englischlehrerin in der Oberprima einer norddeutschen Stadt vor einer Reihe von Jahren. Diese Novelle von Siegfried Lenz beginnt damit, dass in der Aula des Lessing-Gymnasiums dieser norddeutschen Stadt eine Gedenkstunde für die Lehrerin Stella Petersen abgehalten wird; denn Stella Petersen ist tot. Stella Petersen ist aber auch die Lehrerin, die mit ihrem Schüler Christian ein Verhältnis hat. Aber nun ist sie tot.

Siegfried Lenz hat auf 128 Seiten ein großartiges Buch geschrieben. Eigentlich kann ein solches Buch auch nur Siegfried Lenz schreiben. Obwohl der Autor nun auch schon im neunten Lebensjahrzehnt steht, findet man bei ihm nicht die peinliche Greisenhaftigkeit eines Martin Walser und auch nicht die unerträgliche Selbstgerechtigkeit eines Günter Grass.

Lenz hat dieses Buch mit einer unglaublichen Sensibilität geschrieben. Eine Sensibilität die den Leser einfach nicht aus der Verantwortung des Mitdenkens entlässt. Die Personen schildert er mit großer Zuneigung, so als seien es seine eigenen Kinder. Man ist als Leser sehr schnell vertraut mit ihnen und nimmt an ihrer Liebe und auch an ihrem Leiden wirklichen Anteil.

Siegfried Lenz strahlt eine Ruhe aus, die ihresgleichen in der deutschen Nachkriegsliteratur noch nicht gefunden hat. Er schafft es auf sehr erstaunliche Art und Weise mit seiner freundlichen Wortkargheit unwahrscheinlich eindringliche Beschreibungen und Bilder zu liefern. Man liest dieses Buch sehr schnell durch. 128 Seiten sind ja schließlich nicht die Welt. Ich habe dieses Buch heute Abend zweimal gelesen und ich habe mich auch beim zweiten Lesen nicht dieser ungeheuren Faszination entziehen können.

Ich hänge mich jetzt einmal sehr weit aus dem Fenster: Etwas was Besseres als Siegfried Lenz hat die deutsche Literatur zurzeit einfach nicht zu bieten. Einfühlsamer und eindringlicher kann man wohl kaum schreiben, ohne die Grenze des Banalen auch nur zu streifen.

Ein wunderbares Buch!

Meine Bewertung:
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern: ( :stern: :stern: :stern: :stern: :stern: )

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Voltaire
 

von Anzeige » 14.05.2008, 20:54

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Beitragvon tom » 14.05.2008, 21:07

Diesen neuen Lenz habe ich ja noch nicht gelesen, doch von allem, was ich von ihm kenne, kann ich Voltaire nur von Herzen zustimmen. Dieser Mann schreibt auf eine Art und Weise, die garnichts Gekünsteltes hat, aber einfach zutiefst menschlich ist. Bei seinem immensen Lebenswerk bleibt mir - trotz vieler gelesener Bücher von ihm - noch einiges zu entdecken, und darauf freue ich mich schon jetzt!
tom
 

Beitragvon Sybille » 19.05.2008, 08:18

Danke für den Hinweis. Kommt auf meine Wunschleseliste.

Aber dass Du Dich immer soweit aus dem Fenster lehnen musst - halt Dich gut fest! :mrgreen:
Nee, mal im Ernst. Siegfried Lenz ist schon einer der Besten die wir derzeit haben. Aber diese Ausschließlichkeit mal wieder...
Liebe Grüße, Sybille
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Beitragvon wolves » 19.05.2008, 09:08

Sybille hat geschrieben:Danke für den Hinweis. Kommt auf meine Wunschleseliste.

Da steht es bei mir schon ein Weilchen. :D
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon wolves » 12.06.2008, 09:05

Vorgestern habe ich das Buch beendet. Tatsächlich war es ja mein erster Lenz gewesen, den ich gelesen habe. Und eine wirkliche Vorstellung von dem was mich als Leser erwartet, hatte ich bis dato nicht.
Nun, ich habe die Geschichte regelrecht verschlungen. Lenz ist ja ein begnadeter Erzähler. Man muss allerdings einen gewissen Faible für seine Beschreibungen haben. Dann kann man das Buch entsprechend genießen. Einfach herrlich wie er die Geschichte entwickelt hatte! Man wird beim lesen regelrecht durch seine ruhige Erzählart getragen.
Was mir so besonders aufgefallen war, dass für mich die Personen recht schnell greifbar wurden.
Liebe Grüße
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Beitragvon wolves » 23.06.2008, 09:31

Ich bin gerade beim Klassikerforum über diesen Linkgestolpert und wollte ihn euch nicht vorenthalten. Eine wirklich schöne Beschreibung über das Buch!
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon Krümel » 26.07.2008, 19:49

Ein leises Buch, einfühlsam und wohltuend!

Wie alt ist eigentlich diese Englischlehrerin, die mit ihren Schülern gerne lacht, Streiche ausheckt und so schnell schwimmen kann? Ist es da ein Wunder, dass sich die männlichen Schüler alle zu ihr hingezogen fühlen, sie verehren und sich in diese faszinierende Figur verlieben?
Der Protagonist (Christian/18 ) erfährt mit dieser Lehrerin seine erste Liebe. Am liebsten würde er mit ihr zur “Vogelinsel” entfliehen, weit ab von allem, nur noch im Sand liegen, lieben, und in die Sterne schauen. Er hat auch schon den Proviant besorgt, den man für ein solches Unternehmen braucht …

Aber dann kommt der Sturm! “Schweigeminute”!

Diese Erzählung liest so schnell, wie die Wellen im Meer, welche durch künstliche Riffs unterirdisch gebrochen werden müssen, damit kein Unglück geschieht. Und dennoch ereignen sie sich ständig.

Die Frage der Verantwortungslosigkeit stellt sich hier kaum. Anders als im Buch “Schande” von Coetzee (Professor mit Studentin), in dem es dazu führte, dass der Prof unehrenhaft entlassen wurde.
Auch der Leser verhält sich sehr tolerant gegenüber dem Geschehen, und bedauert eher den Ausgang. Aber warum ist das so?

Mir hat dieses Büchlein sehr gut gefallen. Eine weiche gepflegte Sprache, idyllische Landschaftsbeschreibungen und intensive Gefühle erwecken diese Lektüre zum Leben.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
Schwierigkeitsgrad: leicht
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon tom » 28.09.2008, 14:00

Nun habe ich also auch diesen Lenz gelesen und habe ihn insbesondere sprachlich sehr genossen. Wie schnörkellos und einfach die deutsche Sprache doch sein kann. Plötzlich erscheint alles sprachlich so leicht!

Dabei ist das Buch mit seinen verschiedenen Erzählebenen sehr geschickt und "kompliziert" aufgebaut. Trotz Absatzeinbaus geht es zwischen zwei verschiedenen Erzählebenen oft unterbrechungslos weiter, will sagen: ein Thema, ein Satz, ein Motiv der einen Ebene wird quasi auf einer anderen Ebene fortgesetzt! Das ist schon meisterlich!

Voltaire und Kruemel haben das Buch zur Genüge vorgestellt und ich finde mich auf je eigene Art in beiden Vorstellungen wieder. Was aber:

Krümel hat geschrieben:Die Frage der Verantwortungslosigkeit stellt sich hier kaum. Anders als im Buch “Schande” von Coetzee (Professor mit Studentin), in dem es dazu führte, dass der Prof unehrenhaft entlassen wurde.
Auch der Leser verhält sich sehr tolerant gegenüber dem Geschehen, und bedauert eher den Ausgang. Aber warum ist das so?


berührte mich auch als Frage. Irgendwie vielleicht "blöd" oder moralisch zu überspitzt, wenn ich ähnliche Fragen in mir fand und darauf ebenso keine Antwort fand. Vielleicht gut so, vielleicht gewollt so?! Doch jene Ungewißheit (ich weiß: das ist MEIN Problem!) halber gebe ich auch "nur"

:stern: :stern: :stern: :stern:
tom
 

Beitragvon Krümel » 29.09.2008, 10:00

Sind wir zwei Moralaposteln? Hm, als Gouvernante habe ich mich erst letztens betitelt, aber irgendwie stach es mir doch sehr ins Auge, dass keiner der Leser irgendwie darauf eingegangen ist. Obwohl es ja doch unrechtens ist ... Aber vielleicht liegt das einfach daran, dass die Lehrerin stirbt :idea:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon wolves » 29.09.2008, 12:50

:oops: Huch ertappt, ich gehöre wohl zu den Lesern, die das weniger gestört hatte. Ja, warum eigentlich ,frage ich mich jetzt auch. Vielleicht liegt es an der Art und Weise wie Lenz es erzählt? Da ist nichts verwerfliches, nichts schmuddeliges oder obszönes. Es ist einfach nur klar erzählt.

Irgendwo hatte ich mal gelesen, dass es sich auch um einen Wunschtraum des Schülers handeln könnte. Dass seine Erlebnisse mit seiner Lehrerin nur in seiner Phantasie geschehen wäre. Das empfinde ich jetzt nicht so. Für mich war es schon sehr real. Wie seht ihr das?
Liebe Grüße
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Beitragvon Krümel » 29.09.2008, 13:24

Wunschdenken? Das hat was, aber dazu müsste ich das Buch erneut lesen :wink:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon wolves » 29.09.2008, 13:32

So eine kleine Novelle ist doch schnell wieder gelesen, Krümel. :wink: Ich liebäugel ja auch mit einem reread. :D
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon tom » 29.09.2008, 16:19

Nein, das Buch hat auf keinen Fall was Obszönes! Beileibe! Siegfried Lenz spricht so leise und unaufdringlich, ohne irgendwie zu provozieren.

Im Buch gibt es angesichts dieses Verhältnisses eine Art Natürlichkeit. Diese aber erstaunt mich eben, wenn man an den Altersunterschied und die "Lehrerfunktion" denkt. Was mich etwas störte war vielleicht die "Schnelligkeit" mit der hier etwas ja normal Verbotenes passiert. Oder habe ich das falsch registriert?

Übrigens muss ich hier schmunzelnd hinzufügen, dass ich mir solch eine Beziehung durchaus als real vorstellen kann, da in meiner eigenen Familie ein Cousin seine Lehrerin geheiratet hat. Allerdings gab es wegen einer Spätumschulung quasi keinen Altersunterschied. Ich habe mit den beiden keinerlei Probleme, klaro!
tom
 

Beitragvon alixe » 11.01.2009, 18:18

Nach 60 Seiten, also der Hälfte der Novelle, kann ich mich der allgemein herrschenden Begeisterung nicht ganz anschließen. Weder finde ich Lenzens Stil so überwältigend wie in Deutschstunde oder in Es waren Habichte in der Luft. Andererseits ist es auch, trotz dem „dramatischen“ Geschehen, eine anmutige Geschichte und die Sommerbrise weht über die Seiten und ich bin dankbar, dass es derer nur 126 sind…

Liegt es am Thema? Wahrscheinlich. Ich mag eigentlich keine Liebesgeschichten, Liebesgeschichten langweilen mich und auch eine Liebesgeschichte von Siegfried Lenz vermag mich nicht zu überzeugen. Gefallen tun mir jedoch die Schilderungen der Gedenkstunde, die Atmosphäre in der Aula. Das Benehmen der verschiedenen Schüler ist emphatisch skizziert.

Ich musste auch ein Wörterbuch zu Hilfe nehmen: der Greifer, die Winsch, der Prahm… bin in der Schifffahrt nicht so bewandert … :roll:

herzlichst: alixe
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Beitragvon Karthause » 11.01.2009, 18:29

alixe hat geschrieben:Ich musste auch ein Wörterbuch zu Hilfe nehmen: der Greifer, die Winsch, der Prahm… bin in der Schifffahrt nicht so bewandert … :roll:


Alixe, mit diesem Satz hast du das Buch für mich interessant gemacht. Ich bin ein echtes Schifferkind. Mein Vater war Schiffsführer auf einem Binnenschiff und ich habe alle Ferien auf dem Pott verbracht.
Viele Grüße
Karthause

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