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Littell, Jonathan - Die Wohlgesinnten




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Littell, Jonathan - Die Wohlgesinnten

Beitragvon Voltaire » 23.04.2008, 21:26

Titel. Die Wohlgesinnten
Autor: Jonathan Littell
Verlag: Berlin-Verlag
Erschienen: Februar 2008
Seitenzahl: 1392
ISBN-10: 3827007380
ISBN-13: 978-3827007384
Preis: 36.00 EUR


Man stelle sich folgendes – fiktives – Szenario einmal vor:

Der Schriftsteller Jonathan Littell sitzt mit einigen Leuten (Kollegen, Lesern, Journalisten etc.) zusammen und spricht von seinem Plan, von seiner Idee, einen erdachten SS-Offizier über seine Erlebnisse berichten zu lassen. Littells Zuhörer würden ihm vielleicht davon abraten und wenn sie ihm nicht abraten würden, so hätten sie sicher einen riesigen Sack voller Bedenken, die sie ihm vor die Füße kippen würden.

Doch Jonathan Littell hat sich nicht beeinflussen lassen und hat dieses Buch geschrieben und man kann ihm dankbar sein, dass er dieses Buch geschrieben hat. Ein Buch, dass sicher auf jeden Leser eine unterschiedliche Wirkung ausüben wird, ein Buch dass Stoff für endlose Diskussionen bietet.

Glaubt man den verschiedenen Kritikerstimmen in den Medien, dann scheinen „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell etwas ganz Besonderes zu sein. Ein Buch das polarisiert und bei dem man sich nicht von der Seitenzahl in Höhe von knapp 1400 Seiten abschrecken lassen soll, ein Buch das man lesen sollte. Unbedingt.

Das Buch handelt von dem SS-Offizier Dr. Aue, der über die Zeit von 1941 bis 1945 berichtet. Sein Bericht ist schonungslos zeichnet sich zudem auch durch Detailtreue aus. Offenbar hat der Autor hat sehr intensives Quellenstudium betrieben.

Gleich zu Beginn des Buches nimmt der fiktive Erzähler die Leser mit auf eine Reise durch das Reich seiner ganz persönlichen Lebensphilosophie. Man muss sich als Leser immer wieder vergegenwärtigen, dass es sich hier um eine Fiktion handelt, keinesfalls aber um einen autobiographischen Text.

Dr. Aue versucht, so wie viele andere SS-Männer auch, seine Verbrechen zu relativieren, nicht sie zu leugnen. Er beruft sich nicht auf den immer wieder zitierten Befehlsnotstand. Reue ist ihm fremd. Trotzdem wirken seine Rechtfertigungen so manches Mal fast etwas weinerlich. Zwischen den Zeilen beklagt er sich über die mangelnden Resonanz in Bezug auf seine „Arbeit“. Er versteht offensichtlich nicht, wieso seine Umgebung ihm mit Unverständnis begegnet. Interessant in diesem Zusammenhang ist aber auch, dass er nach dem Krieg nicht zur Verantwortung gezogen wurde, sondern dass er unbehelligt weiter als Teil der Gesellschaft lebt. Ein Phänomen, dass wir in der tatsächlich existierenden Nachkriegsgeschichte immer wieder neu erleben mussten. Gerade in diesem Punkte hat Justitia sehr schwere Schuld auf sich geladen.

Dr. Aue verkennt nicht die Leiden der Opfer, er spricht es durchaus auch an, im gleichen Atemzug aber bittet er auch um Verständnis für die Täter, denn die stünden ja schließlich auch unter einem erheblichen Druck bei ihrer sehr „harten“ Arbeit.

Als Leser vergisst man immer wieder, dass es sich bei diesem Buch um eine Fiktion handelt, wirkt es doch zu sehr wie ein authentischer autobiographischer Text. Jonathan Littell ist es wirklich gelungen aus der Sicht eines SS-Offiziers zu schreiben. Er schreibt aus der Sicht eines Menschen, für den das Töten von Menschen in erster Linie ein logistisches Problem ist und für den es völlig normal ist, dass das Töten von Menschen, das planmässige Töten von Menschen, einen bürokratisch kühlen Vorgang darstellt.

Der fiktive Erzähler Dr. Aue sieht kein Unrecht in seinem Tun. Er hinterfragt nichts und niemanden, er fühlt sich geehrt als in den Stab des Reichsführer SS Heinrich Himmler aufgenommen wird, er macht sich über Adolf Eichmann lustig, den er lediglich als tüchtigen, wenn auch einfältigen Bürokraten sieht. Aue dient, ist stolz auf seine Zugehörigkeit zur SS, ist in seinen Augen ein guter Nationalsozialist und ist bestrebt Karriere zu machen. Und für die Sache müssen schon mal sehr harte Maßnahmen angewendet werden.

Aue ist ein belesener Mensch, ein Liebhaber der Musik von Monteverdi und einer philosophischen Diskussion geht er niemals aus dem Weg, trotzdem hat er kaum vorstellbare Schuld auf sich geladen, eine Schuld für die es kaum eine angemessene Sühne gibt. Diese Diskrepanz zwischen dem Menschen Aue und dem SS-Offizier Aue macht Littell auf eine sehr eindringliche Art und Weise deutlich. Littell hat auch sehr klar gemacht, dass sehr viele Menschen, die im humanistischen Geist erzogen wurden, sich an der Mordmaschinerie beteiligt haben, ohne dabei so etwas wie ein Unrechtsbewusstsein zu haben.

Nur, können wir wirklich hundertprozentig von uns selbst sagen: „Ich hätte da nicht mitgemacht!“ Es waren ganz normale Bürger, die an der Tötung von Millionen Menschen ohne irgendwelche Gewissensbisse mitgewirkt haben. Die Erklärung dieses Phänomens ist bis heute nicht abschließend gelungen.

Ein lesenswertes Buch, ein Buch das wohl niemanden unberührt lässt der es gelesen hat.

Meine Bewertung:
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Voltaire
 

von Anzeige » 23.04.2008, 21:26

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Beitragvon Karthause » 23.04.2008, 21:42

Voltaire, das nenne ich eine stolze Leistung, dieses Buch, das ja wohl etwas schwer verdaulich ist, in solch kurzer Zeit zu lesen. Vielen Dank für deine Rezi. Sie bestätigt mich darin, es auch zu lesen.
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon Krümel » 24.04.2008, 09:17

Ich nehme die Rezi im Blog auf, danke!
BildLiebe Grüße,
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Re: Littell, Jonathan - Die Wohlgesinnten

Beitragvon wolves » 24.04.2008, 11:20

Zuerst mal muss ich schreiben, dass ich ziemlich beeindruckt davon bin in welch unglaublich kurzer Zeit du das Buch gelesen hast. Deine Rezi gefällt mir auch ausgesprochen gut. Danke dafür!

Allerdings da muss ich dir leider etwas widersprechen.
Voltaire hat geschrieben: Ein Buch das polarisiert und bei dem man sich nicht von der Seitenzahl in Höhe von knapp 1400 Seiten abschrecken lassen soll, ein Buch das man lesen sollte. Unbedingt.


Selbst wenn man dieses Buch unbedingt lesen sollte, ich werde es nicht. Wie ich schon mal geschrieben habe, ich könnte es einfach nicht ertragen diese Gleichgültigkeit der Gedankenwelt dieser Irren zu lesen. :-(
Liebe Grüße
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Beitragvon alwin03 » 24.04.2008, 11:25

Auch bin erstaunt über deine Lesegeschwindigkeit :shock:

Auch ich, werde das Buch nach deiner gelungenen Rezi lesen :!:
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


wENN nUr meinE sCHleChte recht(s)SchreIbunG nICHT wÄr :cry:
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Beitragvon alwin03 » 02.08.2008, 09:36

Polarisieren, dass steht wohl als erstes Wort, wenn man den Littell gelesen hat.
Das Buch wird jeden Leser sich seine eigene Meinung über Inhalt und Ausdruck der 1400 Seiten schaffen lassen.

Ich hatte immer wieder zwischendurch in kurzen Zügen geschildert welchen Eindruck das Buch auf mich gemacht hat. Ich hab nun die Seiten geschafft, hab sie auf mich wirken lassen und will darüber schreiben.

Nun ist der Krieg kein "tolles" Thema und wenn man ihn beschreibt, so sucht man sich am besten Extreme aus, um die Ungerechtigkeit und alles was damit zusammenhängt, mit voller Wucht auf den Leser zu reflektieren.
So geschehen bei Littell. Sein Protagonist wird an die wiederlichsten Schauplätze des Krieges geschleppt. Seine Reise beginnt von Berlin ausgehend über Polen in die Ukraine mit der Aufgabe die Juden zu vernichten. Dr. Aue ist nicht nur dabei, er ist auch selbst Täter für den nicht die Toten, sondern die Zahlenkolonnen und die Logistik wichtig sind. Er ist hier und da etwas psychisch angeschlagen, aber im Allgemeinem macht er brav seine Arbeit.
Danach ist er zur Erholung im Kaukasus um dann die letzten Tage in Stalingrad mitzuerleben.
Auf Grund einer Verletzung, ist er einer der letzten die Stalingrad verlassen konnten und nach seiner Genesung gelangt er ins Hauptquartier von Himmler in dem er bis zum Einmarsch der Russen in Berlin tätig ist.

Mich hat das Buch stark an "Der Tod ist mein Beruf" von Merle erinnert. Merle hat die Bilder ebenso brutal und damit sicher auch authentisch geschildert. Dem Leser bleibt nichts erspart, ihm werden die Augen grausam auf das Abschlachten gerichtet. Man hält es nicht für möglich was ein Mensch aushalten kann.

Der für mich interessanteste Part lag in dem Buch darin, dass es sich hier um eine Gewisse autobiographische Abhandlung mit wahren Kriegsgrößen handelt.
Dr.Aue trifft während des Buches mit vielen wichtigen Personen des Krieges fiktiv zusammen. Von Blodel, über Ohlendorf, Eichmann, Höß, Himmler, Speer bis hin zu Bornemann und Hitler. Alles Personen die er fiktiv an den ihnen zugewiesenen Orten begegnet.
Ich kam nicht umhin, ständig neben mir den Laptop aufzuschlagen um noch weitere Informationen zu diesem Thema zu gelangen.
Littell hat es damit geschafft, ein gewisses Interesse im Leser zu wecken und damit die Grundlage gelegt, dass man sich mit dem Thema auseinandersetzt.

Dr. Aue wird nicht nur als Schlächter und Beamter beschrieben, sondern auch sein persönliches Leben begleitet den Leser über das gesamte Buch.
Hier hat Littell für mich komplett versagt. Das sein Protagonist eine etwas schwierige Kindheit hinter sich hat, begleitet mit einer inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester, dazu homosexuell veranlagt ist, sei gestattet. Wie sich Littell mit dieser Thematik auseinandersetzt ist gruselig.
Seine Fäkalsprache, die abnormen Gedanken dazu verreißen das Buch.
So hart und brutal er den Krieg schildert, so hart und brutal muss nach Littel`s Meinung auch sein Privatleben und seine Gedanken dafür herhalten.
Der Mord an seiner Mutter, die immer wiederkehrenden Polizisten und das sehr skurile Ende sind Beispiel dafür.

Abschließend erhält Littell ein Lob für seine gute Recherche, welches er aber mit seiner mir unangenehmen Sprache wieder verschenkt.
Ein Buch was mich bewegt hat, welches ich unbedingt weiterempfehlen werde und über welches ich gern noch diskutieren möchte.
Von der Stimmung her, habe ich 700 Seiten aufwärts gelesen um dann leider nach 700 Seiten wieder unten zu landen.

Leider nur einen (Recherche) Stern



:stern:
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


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Beitragvon Krümel » 02.08.2008, 10:06

So arg, och das tut mir aber leid :oops:
BildLiebe Grüße,
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Beitragvon Pippilotta » 02.08.2008, 10:10

Ich bin auch etwas erstaunt ...(muss vorausschicken, dass ich das Buch noch NICHT gelesen habe)
Ich lese heraus, dass du in erster Linie die - derbe - Sprache kritisierst. Aber ist das nicht so gewollt? Passt zu einem Mann wie Aue nicht auch nur diese "Fäkalsprache"? Welche sonst? Ich muss aber zugeben, dass ich Abschreckendes, Grausiges lieber "zwischen den Zeilen" herauslese, was für mich oft beklemmender und abstoßender ist, mehr Wirkung hat als "jedes Wort beim Namen zu nennen".
Herzliche Grüße
Pippilotta


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Beitragvon Nerolaan » 02.08.2008, 10:12

Oh je... :shock:
Ich bin mal gespannt wann und ob Dr.Who es lesen wird. Das Buch scheint ja wirklich die Gemüter zu spalten :-|
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Beitragvon Karthause » 02.08.2008, 10:32

Na das nenne ich doch eine ordentliche Bandbreite, die bewertungsmäßig zwischen alwin und Voltaire liegt.

Ich werde es auch noch lesen und bin schon entsprechend gespannt.
Viele Grüße
Karthause

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Beitragvon alwin03 » 02.08.2008, 10:37

Krümel hat geschrieben:So arg, och das tut mir aber leid :oops:


... das muss es nicht.

Ich hab das Buch ja bis zur Hälfte ja recht gern gelesen. Es hat mir auch gefallen und ich hatte eigentlich nie das Gefühl es wegzulegen.
Es las sich halt wie ein Berg. Voller Euphorie und neuer Gedanken den "Berg hoch" um dann doch wieder auf dem "Hosenboden" zu landen und am Ende hat das Buch leider den faden Beigeschmack eines "Bestsellers".


@Pippi, es kann ruhig mal etwas derb zugehen, aber hier war es mir stellenweise an den Haaren herangezogen um vielleicht einem Klischee zu genügen.

Ich kann und will eigentlich nur jedem raten es selbst zu lesen(außer vielleicht unserer kleinen @Wolves).
Wenn man "durchkommt" dann kann man sich ein eigenes Bild machen und darauf freue ich mich :wink:
Ich lese zur Zeit:

--------------------------------------- ???


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Beitragvon wolves » 03.08.2008, 13:21

alwin03 hat geschrieben:Ich kann und will eigentlich nur jedem raten es selbst zu lesen(außer vielleicht unserer kleinen @Wolves).

Bild

Nein, immer noch kein Interesse an dem Buch. Es gibt so viele so interessante Bücher, warum soll ich mich durch das Buch durchquälen?
Dein Eindruck über das Buch war sehr interessant zu lesen @Alwin!
Liebe Grüße
wolves


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