Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Oates, Joyce Carol: Niagara




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Oates, Joyce Carol: Niagara

Beitragvon mombour » 19.09.2012, 16:52

Joyce Carol Oates: Niagara

Bild

Ariah heiratet den Presbyterianer - Pfarrer Gilbert Erskine. Nach der Hochzeitsnacht stürzt er sich in die Fluten der Niagarafälle. Die Niagarafälle sind ein beliebter Ort für Hochzeitsreisenden und ein Paradies für Selbstmörder. Im Vordergrund dieses Naturwunders siedelt Joyce Carol Oates eine Familientragödie an. Sie erzählt von Menschen, die von den Wasserfällen angezogen werden. Auf der Familie scheint ein Fluch zu liegen. Ein böser Fluch des Ortes ist auch ein Umweltskandal. Eine Chemiefabrik verseucht das Grundwasser, verseucht die Atemluft. Menschen erkranken an Krebs, Leukämie und anderen schwerwiegenden Krankheiten. Viele Bewohner finden frühzeitig den Tod. Ariahs zweiter Mann Dirk Burnaby ist angesehener Rechtsanwalt des Ortes und verklagt hochrangige Leute und ehemalige Freunde, die Mitverantwortung an diesem Skandal tragen, und verstrickt sich damit bis zu seinem beruflichen Untergang, denn für ihn allein bleibt es aussichtslos, einen Aufstand gegen mafiöse Strukturen und kapitalistische Wirtschaftsinteressen zu führen. Da ist doch jeder seiner gerichtlichen Gegner froh, dass er den Prozess selbstverständlich verliert und anschließend in den Fluten des Niagara auf ewig und immer verschollen bleibt. Nur die Geschwister Chandler, Royall und Juliet zeigen Interesse daran, nachzuforschen, warum ihr Vater so früh sterben musste.

Neben der Kritik an egoistischen Wirtschaftsinteressen, nimmt die Autorin auch bigotte Frömmigkeit aufs Korn. Ariah, selbst einer presbyterianischen Familie entwachsen, wird von ihrer Familie gemieden, weil sie kurz, Tod ihres Mannes wieder heiratet. Gilbert Erskine ist übrigens nur durch äußeren Druck seiner Familie kurzzeitig zu Ariahs Ehemann geworden. Dirk, der auch einer bigotten Familie entstammt, erleidet dasselbe Schicksal. Dass die schüchterne Ariah erst mit 30 Jahren die Sexualität entdeckt, und sich mit der männlichen Genitalphysiologie nur sehr bedingt auskennt, und Ariah nach Jahren bei einem Besuch, den subtilen Sticheleien ihrer Schwiegermutter ausgesetzt ist, die eine strenge Katholiken ist, das sind sehr feine elegante Mittel, die die Autorin gegen überzogener Bigotterie einsetzt. Nicht vergessen zu erwähnen ist, das die Autorin ihre Protagonistin ziemlich unattraktiv und flachbrüstig umschreibt, sodass ich mich doch gewundert habe, dass sich der wohlhabende Rechtsanwalt ziemlich schnell in sie verliebt hat.

Das Klappentexte nichts wert sind, wissen wir ja. „Ein Geniestreich der Beobachterin menschlicher Abgründe“, heißt es darin. Reichlich übertrieben finde ich. Im ersten teil des Romans, 144 Seiten lang, ist Joyce Carol Oates allerdings wirklich in Hochform und übertrifft sich selbst. Die Umstände von Gilbert Erskine's Tod werden sehr intensiv aus der Perspektive von drei Menschen wiedergegeben: der Brückenwärter, Ariah Erskine und Dirk Burnaby. Und all das ist wunderbar bildhaft und intensiv erzählt. Es ist nicht zu begreifen, warum Oates dieses Niveau nicht Aufrechterhalten kann. Ariahs tristes Eheleben, sie lebt nur für ihre Kinder, Dirk nur für seinen Beruf, ist sehr lang völlig spannungslos dahin gezogen. Sehr bedauernswert, dass Carol Oates sogar aus dem Umweltskandal keine Spannung laden konnte. Das liegt einfach daran, weil es keine direkten Dialoge und Handlungsstränge mit den Beklagten gibt, darum diese Gestalten farblos bleiben. Die Protagonisten des Romans sind allerdings hervorragend porträtiert.

Aus dem inhaltlichen Material hätte Joyce Carol Oates ohne weiteres einen hervorragenden 800 Seiten Roman stricken können. Geblieben sind nur 144 wirklich gute Seiten, alles andere plätschert mehr oder weniger dahin, viel leidenschaftsloser als die Niagarafälle.
:stern: :stern: :stern:
Thomas Hardy: Herzen in Aufruhr
Fernando Pessoa: Buch der Unruhe
mombour
Der Poet
Der Poet
 
Beiträge: 762
Registriert: 30.11.2009, 09:06
Wohnort: Regensburg

von Anzeige » 19.09.2012, 16:52

Anzeige
 


Ähnliche Beiträge


Zurück zu Zeitgenössische-Literatur

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron