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Russell, William - Der Fliegenfänger




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Russell, William - Der Fliegenfänger

Beitragvon marilu » 30.04.2006, 14:08

Inhalt:

Aus der Amazon.de-Redaktion

Raymond hält sein Leben für ganz normal. Was ist auch seltsam daran, dass sein Vater die Familie aus Liebe zu einem Banjo verließ, oder seine Oma, die so gar keinen Spaß versteht, nur mit Sartre glücklich geworden wäre? Raymond jedenfalls kann darin nichts Außergewöhnliches erkennen. Bis ihm ein Erlebnis am Rochdale Canal die Augen öffnet.

Raymond Marks, Teenager und Titelfigur in Der Fliegenfänger, hat nicht gerade das erlebt, was man eine gut behütete, glückliche Kindheit nennen könnte. Dennoch ist er bis zu den Ereignissen, die sein Leben verändern, ein normaler Junge einer normalen Familie in einer normalen Stadt.
[url=Der ausschweifende Vater hat die Familie früh verlassen, und so lebt Raymond, der in Jean-Paul Sartre vernarrt ist, allein mit seiner streitsüchtigen Mutter und der Großmutter. Als er einen Jungen vor dem Ertrinken bewahrt, gehört ihm fünfzehn Minuten lang der ganze Ruhm. Bis sich herausstellt, dass Raymond und andere Schulkameraden am nahen Kanal "Fliegen fischen", ein harmloses, von Eltern und Lehrern jedoch tragisch missverstandenes Spiel.

Auf Vorschlag seines verachteten Onkels Jason wird Raymond in den "Gulag Grimsby" verbannt. Dort verarbeitet Raymond die erduldeten Schmähungen und Verleumdungen in einer Reihe von Briefen an sein Idol Morrissey, den ehemaligen Star der Band "The Smiths". Mit der Zeit stellt er fest, dass es "einemillionprozentig in Ordnung ist, nicht normal zu sein".

Mit diesen Briefen gewinnt Raymond das Herz des Lesers -- und das ist dem Autor Willy Russell zu verdanken. Er versteht es, banale und tragische Beschreibungen und Situationen so nah an die Grenze des Karikaturistischen zu bringen, dass sie zuweilen komisch wirken -- ohne den jeweiligen Ernst der Situation ins Lächerliche zu ziehen. Jedoch wird die Art und Weise, wie Russell dem Leser seine Hauptfigur nahe bringt, nicht jedermanns Sache sein. Dem einen oder anderen mag es zu intim sein, erfährt man doch alles über Raymond Marks aus seinen zutiefst persönlichen Briefen -- es gibt keine Distanz. Anrührend, spannend und lesenswert ist dieses Debüt jedoch auf jeden Fall.

Zum Autor:

Willy Russell ist bestimmt einigen aus ihrem Englischunterricht ein Begriff. Er ist Autor von "Educating Rita" (ebenfalls sehr empfehlenswert!) und "Shirley Valentine".
Der Autor wurde 1947 in der Nähe von Liverpool als Sohn eines Arbeiters geboren. Nachdem er mit 15 Jahren die Schule verließ, wurde er Friseur. Ein Beruf, den er für sechs Jahre beibehielt. Anschließend schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Er schrieb erste Folksongs und kleine Beiträge für das lokale Radio.

Später holte er seinen Collegeabschluss nach, unterrichtete an einer Schule in Toxham und konzentrierte sich später auf seine Schriftstellerei.
2000 erschien sein erster Roman "The wrong boy" (auf deutsch: "Der Fliegenfänger").
Mehr zum Autoren findet ihr auf seiner Homepage: Willy Russell.

Meine Meinung zu dem Buch:

Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen. Der Grundton ist melancholisch, die Erlebnisse von Raymond Marks herzergreifend traurig (in diesem Zusammenhang kann man sogar von tragisch sprechen), sein persönliches Umfeld macht den Leser wütend und die Briefe, die er schreibt sind einfach rührend.

Morrissey - der Sänger der Kultband "The Smiths" - ist Raymonds Idol. Dessen Weltschmerz, Unsicherheit und Introvertiertheit sprechen Raymonds Lebensgefühl an und so sinniert er, dass Morrissey der eine Mensch auf Erden sei, der ihn verstehen kann. Er gibt sich keinen Illusionen hin, dass Morrissey seine Briefe jemals liest (ja, er ist sich nichtmal sicher, ob er ihm seine Brief jemals zusenden wird), doch das Gefühl, sich jemandem zu offenbaren, der ihm wirklich zuhört, lässt Raymond durchatmen.

Beginnend mit dem unseligen Tag des "Fliegenfischens" geht Raymonds Leben ständig bergab. Zwischenzeitlich denkt man, kann es sein, dass einer Person soviel schlechtes passiert?! Aber nach der beendeten Lektüre weiß man, dass alles so sein musste...

Ich musste häufiger Pausen zwischendrin machen, um alles zu verarbeiten, aber gerade deshalb ist das Buch mir so ans Herz gewachsen.
Ich kann mir gut vorstellen, dass dies auch ein Buch für Teenager ab 15 Jahren ist, obwohl als Zielgruppe Erwachsene angesprochen werden.

Meine Empfehlung:

"And if you have five seconds to spare
I'll tell you the story of my life:
Sixteen clumsy and shy
I went London and I..."

(Morrissey "Half a person" - einleitendes Zitat im Buch)

Schnappt euch eure "The Smiths"-CDs (MCs oder Platten), VIELE Taschentücher und eine beruhigende Tasse Tee (oder Schokolade...oder besser beides!) und lest los! Das Buch wird euch nicht mehr loslassen!

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

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von Anzeige » 30.04.2006, 14:08

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Beitragvon Krümel » 30.04.2006, 14:43

Ja, deine Vorstellungen entwickeln sich zur richtigen Fundgrube, marilu. Du stellst immer tolle Bücher ein.
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Beitragvon Karthause » 30.04.2006, 19:09

Danke, marilu. Schon wieder ist mein Wunschzettel länger geworden. :wink:
Viele Grüße
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Beitragvon Coco » 18.12.2007, 14:01

Dieses Buch, geschrieben in einzelnen Briefen des Protagonisten Raymond Marks an sein Idol Morrisey (Leadsänger der legendären „The Smiths“), lässt mich mit differenten Eindrücken zurück. Wobei, das muss ich sagen, ist es eines der Bücher, das mir mit etwas Abstand besser gefällt als während des direkten Lesens.

Hat man sich nach den ersten Seiten an die etwas „flappsige“ Sprache des Jugendlichen, der in Briefen sein Leben während Kindheit und Jugend erzählt, gewöhnt, taucht man in die Geschichte ein, die ein Wechselbad an Gefühlen mit sich bringt.

Raymond, ein ruhiger, unauffälliger Junge, dessen Leben, wie das Leben unzähliger Jungen in seinem Alter aus Schule, Fußball, Pfadfinder-Gruppe und Comics besteht, erfindet mit seinen Freunden ein Spiel, das durch Erwachsene überinterpretiert und missverstanden wird. Der Grundstein zu einem Leben als Aussenseiter ist gelegt; es folgt der Rauswurf aus der Schule, das Verbot anderer Eltern, mit ihm zu spielen oder zu sprechen, der Ausschluss aus der Pfadfindergruppe.
Doch auch sein weiteres Leben ist eine Verstrickung von Unglücksfällen, mit denen er aktiv nichts zu tun hat, die ihm eben einfach passieren und wiederum fehlinterpretiert werden.
Es folgt die Aufnahme in eine Sonderschule, Depressionen gepaart mit Fettsucht, sogar die Aufnahme in die Psychiatrie.

Dieses Buch kann nur als Satire verstanden werden, selbst im unglücklichsten Leben eines Menschen gibt es Höhen und Tiefen. Doch Raymonds Leben ist ein einziges „Tief“.

Die grösste Stärke Russels besteht aber wohl darin, Menschen im Umkreis von Raymond so grotesk darzustellen, dass man einfach von ihnen fasziniert ist und sich bestens amüsiert – kein Klischee, das hier nicht bedient wird.
Wir haben z.B. Raymonds emanzipierte, selbstbewusste Grossmutter, die bedauert, nicht Sartre als Gefährten gehabt zu haben und Aussenseiter der Gesellschaft als Bereicherung des Lebens ansieht – oder den Vertrauenslehrer seiner Schule, der nebenberuflich an einem Ferninstitut Psychologie studiert, Raymond zu seinem Studienobjekt erhebt und dessen Mutter überzeugt, ihn in die Psychiatrie einweisen zu lassen - und viele andere Personen.
Ganz nah ging mir die Freundschaft Raymonds mit zwei anderen Aussenseiter der Gesellschaft; solch eine Innigkeit und Nähe mit anderen Menschen kann man sich selbst nur von Herzen wünschen.

Doch amüsiert man sich gerade köstlich an einer Situation mit solch überzogenen Charakteren, bleibt einem ein paar Seiten weiter das Lachen im Halse stecken. Zwar immer noch komisch dargestellt, ist die Situation für den Betreffenden überhaupt nicht mehr komisch – hier schneidet Russel, so ganz nebenbei, Themen an, die alleine schon ein ganzes Buch füllen würden: sei es Transsexualität und Homosexualität von Kindern und Jugendlichen - die Würde demenzkranker Menschen und der Respekt vor deren Leben oder vorschnelle Diagnosen bei Kindern im psychiatrischen Bereich.

Ich muss dennoch sagen, dass mir das Buch inhaltlich etwas zu kompakt ist, manche Szenen hätte man einfach streichen können. Des weiteren stört mich das etwas seltsame Ende, das zu plötzlich kommt und etwas zu „glatt“ ist.

Aber insgesamt ein gelungenes Buch !

Ich hoffe, noch mehr von Willy Russel lesen zu können.



:stern: :stern: :stern: / :stern:
Liebe Grüsse
Coco

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Beitragvon Salome » 18.12.2007, 14:32

Muss ich haben!!! :mrgreen:
Salome
 

Beitragvon Coco » 18.12.2007, 15:25

Salome,

Bin gespannt, wie es Dir gefällt

:wink:
Liebe Grüsse
Coco

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Beitragvon Steffi » 19.12.2007, 17:18

Ich habe "Der Fliegenfänger" für die weihnachtliche Lektüre "Früher war noch mehr Lametta - hinterhältige Weihnachtsgeschichten" unterbrochen und lese nun weiter. Mir war in dem ganzen Weihnachtsstress eher nach Kurzgeschichten zumute, weil ich ständig beim Lesen gestört wurde :motz: ... jetzt rückt aber der Urlaub näher und ich kann mich wieder mehr in den Roman vertiefen. Und nach dem oben Beschriebenen sollte ich das auch schleunigst tun :danke:
Steffi
 

Beitragvon marilu » 20.12.2007, 09:10

Auf eure Eindrücke bin auch sehr gespannt!
Ich hoffe, der Roman wird euch ebenso viel Lesevergnügen bereiten wie mir damals.

@Coco: "Educating Rita" ist längst nicht so kompakt, aber dennoch ein tolles Buch! Wir haben es im English-LK durchgenommen und anfangs war ich sehr skeptisch, weil es doch zu sehr nach "öder Schullektüre" aussah. Aber hinter dem unauffälligen Äußeren verbarg sich eine starke Geschichte.
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Beitragvon Coco » 20.12.2007, 09:41

danke Marilu, ich habe das Buch gleich mal auf meine Wunschliste gesetzt !
Liebe Grüsse
Coco

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