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Lessing, Doris - Das fünfte Kind




(der Autor/in lebt noch, und spiegelt die heutige Zeit)

Lessing, Doris - Das fünfte Kind

Beitragvon Katia » 21.04.2007, 09:13

[center]Doris Lessing - Das fünfte Kind (The Fifth Child)[/center]

Inhalt: Harriet und David verweigern sich dem Lebensgefühl 60er Jahre: ganz "altmodisch" kauft das Ehepaar sich ein riesiges Haus und plant viele Kinder zu bekommen. Ihre Gastfreundschaft wird bald bekannt, so dass sich dreimal im Jahr das Haus mit der Verwandtschaft füllt, die mehrere Wochen bleiben - Kinderlachen und Glück erfüllt das Haus. Unterschwellig kommt immer wieder Kritik an Harriet (und David) auf, die in wenigen Jahren 4 Kinder bekommen. Als Harriet kurz darauf zum 5. Mal schwanger wird, ist alles anders, schon im Mutterleib quält sie ihr Sohn, tritt sie, boxt. Und als er auf der Welt ist, scheint es als solle seine Kraft und Bösartigkeit die Familie zerbrechen. Alle außer Harriet scheinen sich einige, dass Ben in ein Heim muss ...

Meine Meinung: Ein wirklich bewegendes Buch mit (wie man in den anderen Foren sieht) Diskussionspotential. Im Gegensatz zu vielen anderen stört mich der offene Schluss nicht (außerdem wird zumindest Bens Geschichte in "Ben in der Welt" weitererzählt).
Harriets Gefühle für und gegen ihr Kind werden nachvollziehbar und eindringlich geschildert.
Als Leserin stelle ich mir immer wieder die Frage, wie ich in einer ähnlichen Situation reagiert hätte; wie Wirbelwind bin ich allerdings der Meinung, dass es angeborene Bösartigkeit nicht gibt.
Wie viele andere stelle auch ich mir die Frage, wieso die Aussenwelt sosehr die Augen verschließt und keine Hilfe z.B. von staatlicher Seite kommt. Andererseits ist mir auch nicht ganz klar, wie die aussehen könnte; in der Praxis würde es doch wohl wieder "Heim" bedeuten.

:stern: :stern: :stern: :stern:

Das Titelbild der BILD-Ausgabe finde ich grauenhaft, erstens werden Bens Augen als grün-gelblich beschrieben und aus diesem Gesicht kann ich nicht einen Schimmer Aggressivität lesen.

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Beitragvon mombour » 01.12.2009, 21:45

Hallo Katia,

ich möche den Roman mal aus familiär soziologischer Sicht betrachten:

„Das fünfte Kind“
erzählt die Geschichte von David und Harriet, die ihr Glück planen, in dem sie sehr viele Kinder in die Welt setzen wollen, ihren Schwerpunkt auf das Glück im Kreise der Familie setzen. Mit dem fünften Kind aber, offenbar einer genetische Verirrung, ein Überbleibsel einer „genetischen Saat“ einer Kreatur, eines Urahn des Menschen, kommt ein Kind zur Welt, dass die Familie zum Zusammenbruch führt – Ben, so heißt er, ist böse, hat ein unmenschliches Aussehen, ist bärenstark aber einfältig im Verstand.

Unsere Geschichte beginnt in den sechziger Jahren. Wird in diesem Jahrzeht die sexuelle Freiheit gepredigt, so interessiert Harriet und David dieses gar nicht. Für sie gilt, eine Familie mit fruchtbarem Nachwuchs zu gründen. Selbstverständlich geht Harriet jungfräulich in die Ehe. Sie ist halt altmodisch, ihr Arzt übrigens auch. Und so kaufen sie ein dreistöckiges Haus, wohlgemerkt ein viktorianisches, und zeugen ein Kind nach dem anderen. Die Pille ist tabu, man will doch der Natur seinen Lauf überlassen. Mit Ben, der Anfang der siebziger Jahre geboren wird, macht ihr Familienglück eine Kehrtwendung.

Doris Lessing spiegelt in dem Roman die damalige Zeit wieder. Damals wurde leichtfertig den Eltern alle Schuld zugeschoben, wenn ein Kind sich nicht so entwickelte, wie es sich entwickeln sollte. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Hölderlin-Biografie von Pierre Berteaux, der Hölderlins Mutter als „schizophrenogen“ degradierte, ohne eine plausible medizinische Begründung vorzuweisen. In unserem Roman wird, wenn es um Bens Entwicklung geht, Harriet alle Schuld aufgeladen.

Übrigens, nachdem das Malheur mit Ben passiert ist, nimmt sie sogar die Pille. :mrgreen:

Liebe Grüße
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Beitragvon Pippilotta » 04.12.2009, 07:56

Ich habe das Buch vor einigen Jahren gelesen und es hat mich damals auch sehr mitgenommen.

Ich konnte mich sehr intensiv in die Mutter hineinversetzen (was wahrscheinlich daran liegt, dass ich selber 3 Kinder habe und auch schon erfahren musste, dass Kinder nicht immer so tun wie man es als Eltern gerne hätte bzw. dass Erziehung eine enorme und tägliche Gratwanderung zwischen Loslassen und Festhalten/Beschützen ist). Und das Gefühl, etwas falsch zu machen, irgendjemanden zu vernachlässigen oder zu bevorzugen kenne ich auch aus dem Alltag.

Harriet ist in einer ausweglosen Situation, sie ist auf jeden Fall die Verliererin, egal wie sie sich entscheidet. Eine Entscheidung, die sie mit ihrem Gewissen und der Umwelt ins Reine bringt, gibt es nicht.

Jedenfalls ist das Buch sehr eindringlich geschrieben, verbirgt jede Menge Diskussionspotential, ich wurde richtiggehend fassungslos.

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:
Herzliche Grüße
Pippilotta


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