Hallo,
Aus der Erinnerung des Biokybernetikers Martijn van Vliet erfahren wir vom Schicksal seiner Tochter, ihren Gang in den Wahnsinn. Es wird klar, van Vliet fühlt sich ihrem schweren Schicksal schuldig und wird von Träumen verfolgt. „Als müsse man meine Tochter vor allem vor mir beschützen“ heißt es.
Durch ihre Zuwendung zur Musik überwindet Lea die Trauer über den Tod ihrer Mutter. Die Trauer der Tochter war für den Vater ein Bindeglied zur Mutter. Als Leas Trauer verflog, entglitt dem Vater seine verstorbene Ehefrau völlig und machte Lea für diese persönliche Katastrophe verantwortlich, obwohl das Mädchen natürlich keine Schuld trägt. Das Problem liegt eindeutig beim Vater, der sagt ...“ in die Trauer mischte sich ein unvernünftiger unsichtbarer Groll gegen Lea, die mir meine Frau wegnahm, ohne die ich viel früher schon entgleist wäre.“ Mit ihrem Violinspiel, ihrem Anspruch eine perfekte Künstlerin zu sein, driftet Lea geistig in für außenstehende unerreichbare Welten ab. Beide, Vater und Tochter, leiden unter gegenseitiger Entfremdung. Martijn van Vliet kann nie in Leas Musikwelt eindringen. Er versucht zwar, Lea auf Konzertreisen zu unterstützen, steigert sich aber geradezu hysterisch in unüberlegte sinnlose Handlungen und Sorgen hinein, eine Flucht vor seinem einsamen Ich. Lea hilft das gar nicht. Sie geigt wie eine balancierende Tonfee am Abgrund, bis alle Saiten reißen. Beiden entgleitet die Bodenhaftung.
Eine Thematik, die mich interessiert, und so schlecht ist das Buch nicht, wie ich es in manchen Kritiken lesen und im TV hören konnte. Zuerst ist es wichtig, es handelt sich ausdrücklich um eine Novelle, d.h., es kreist sich um ein einziges Thema, von dem nicht abgewichen wird, und es gibt auch eine „besondere Begebenheit“, um die sich alles kreist. Ein Roman, wie z.B. „Der Nachtzug nach Lissabon“ ist dann folglich auch vielschichtiger als eine Novelle. Natürlich könnte man kritisieren, warum die heute unübliche Form der Novelle gewählt wird. Dabei wäre aber zu beachten, Mercier bezieht sich ganz bewusst auf das neunzehnte Jahrhundert (van Gogh, Pagannini), auch die Erwähnung von Schallplatten bezeugt einen Hang nach Vergangenem.
Ein Manko, der Autor hätte der innerseelischen Einsamkeit des van Vliet mehr Aufmerksamkeit schenken können, immerhin erzählt der Protagonist aus seiner Sicht. Die familiäre Vergangenheit des Adrian Herzog zeigt sich so nebenbei, dass ich ihr weniger Aufmerksamkeit schenkte. Insgesamt ein schönes Buch für Leser, die Wahnsinnsthemen mögen. Die Novelle ist auch schön erzählt mit Andeutungen und auf den letzten 70 Seiten schraubt sich die Spannung dem Gesamttext angemessen etwas höher. Mir gefällt so was mehr als Kehlmann &Co.
Liebe Grüße
mombour