Sie blättert in den Seiten ihrer Vergangenheit, ein Blick auf alte Fotografien, schwarz-weiß, verblasst. Sie erkennt darin ihre Kindheit wieder und spürt den Schmerz von einst, den sie in all den Jahren nie losgeworden ist. Eine peinigende Traurigkeit dominiert, wenn eine Szene verblendet ans grelle Tageslicht hervor kriecht. Hilflos muss sie zusehen, wie diese Szene andere Szenen anlockt und wie sie sich vermehren als wenn eine Krankheit ihren Geist befällt. Ein Ausflug in ihre Kindheit steht ihr bevor, ins Land der ungebrochenen Tabus, über Straßen unausgesprochener Dinge. Eine raue, erbarmungslose Wanderung in die unverarbeiteten Abgründe ihres Innern. Sie erzählt eine wahre Geschichte, ihre Geschichte, mit jener Ausdrucksfähigkeit, aus der Theater, Film und Literatur ständig zu zehren bereit sind, um Fiktion darzustellen. Eine Handvoll Wörter, die einen ganzen Kosmos bergen. In stillen, ernsten und bestimmten Worten kleidet Duras ihr entstehendes Mosaik an Erinnerungen. Dieser autobiografische Kern ist geschrieben wie ein Gedicht, und wer wird wohl bestrebt sein, ein Gedicht zusammenfassen zu wollen. Fragmente, Erinnerungsfetzen, Schweigen, Demut, Liebe, Tod. Lose Sätze, die fortgetrieben würden, hätten sie nicht die lastende Schwermütigkeit zu tragen. Ein Gedicht … eingenäht im Stoffgewebe der Prosa.
Es ist wohl eine aufs äußerste aufgeschobene, eine längst überfällige Reise, die ihren Weg ans Licht sucht und die wohl ohne Stolz und Ehre auskommen muss, drüben im franz. Indochina, als Fremde unter Fremden. Mit fünfzehn Jahren sieht sie sich mit fast durchsichtigem Kleid, goldenen Schuhen und Strohhut am Rande des Mekong stehen. Ihre frühreife Vorahnung zeichnet sich in ihren kindlichen Gesichtszügen ab, sie beargwöhnt ihren freizügigen Auftritt, der sie eigentlich lächerlich machen müsste. Doch niemand lacht. Eine Bettlerin im Gewand einer Königin im dunklen Schatten der Erniedrigung. Sie erkennt ihre Pflicht als Familienmitglied nachdem ein junger, reicher Mann sie anspricht. Ihr wird die ihr zugewiesene Rolle in diesem dramatischen Stück bewusst und spielt sie mit fabelhafter Hingabe; ohne Koketterie, doch erhaben. Sie verdreht dem Liebhaber den Kopf durch die eifrige Selbstlosigkeit in hoffender Erwartung einer hohen Gage; das Publikum applaudiert, er verliebt sich, möchte sie heiraten, ihm zuliebe hängt sie noch eine Zugabe an ihren Auftritt.
Der Lärm der Stadt ist so greifbar nah, dass man hört, wie er ans Holz der Jalousien schlägt. Es dröhnt, als gehe die Menschenmenge durchs Zimmer. Ich liebkose seinen Körper in diesem Lärm der durchziehenden Menge. Das Meer, die Unendlichkeit, die sich formt, sich entfernt, zurückkehrt. Ich hatte ihn gebeten, es wieder und wieder zu tun. Es mir zu tun. Er hat es getan. Er hat es getan im Seim des Bluts. Und das war zum Sterben schön. Zum Sterben.
Gezeichnet ist sie, ein treibender Baumstumpf im anrüchigen Schlamm, und wird ihr der skandalträchtige Ruf bewusst, verstummt sie, meidet sie das „ich“ und redet über sich wie von einem fremden Kind. Das Geld bringt sie ihrer Mutter, die es unkommentiert entgegennimmt, solange die Gesellschaft die Liebesbeziehung nicht mitkriegt. Ansonsten drohen ihr Schläge, weil sie den Ruf der Familie beschädigt hat. Das Schweigen dominiert im Elternhaus. Die Armut hat tiefe Krater in die Familienstruktur gegraben, dessen „Teilnehmer“ bis auf das gemeinsame Blut ohne Bindung sind. Die Liebe der Mutter zu ihrer Tochter und den beiden Söhnen wurde längst gepfändet, um die Misere zu bekämpfen. Die Fesseln einer bekennenden Hassliebe zwischen Mutter und Tochter werden zum Hindernis, zum Gegenstand eines immerwährenden Kampfes, eines aussichtslosen Kampfes, eines Konfliktes ohne Sieger. Dabei mag die Mutter weder Schwächen zeigen, noch empfindet sie Wohlwollen zu den Schwachen. Sie, die Verrückte von Saigon, sucht Trost bei ihrem ältesten Sohn. Ihn unterstützt sie, ihn, den brutalen Despoten, der verzweifelt um sich schlägt.
Ich sehe den Krieg in denselben Farben wie meine Kindheit. Ich verwechsle die Kriegszeit mit der Herrschaft meines älteren Bruders. […] Der Krieg erscheint mir wie er: er breitet sich überall aus, dringt überall ein, stiehlt, nimmt gefangen, ist allgegenwärtig, mit allem vermischt, in alles verwickelt, anwesend im Körper, im Denken, im Wachen, im Schlaf…
Ein Kampf um gerechte Liebe, um Aufmerksamkeit, um Anerkennung. Doch verlieren tun sie alle. Sie sind in ihren Bemühungen gescheitert, lange bevor sie nach Frankreich übersiedeln. Die einzige Liebe, die Marguerite in Vietnam empfing, war die des Liebhabers. Eine verbotene Liebe, die unerfüllt nach Europa ausgewandert ist. Ein makabrer Umstand, gerettet von einem Hauch Geborgenheit vor der drohenden Endgültigkeit.
Der Körper meines Bruders ist tot. Die Unsterblichkeit ist mit ihm gestorben.
Gruß,
chip