"Der Liebhaber"Ein wenig warmlesen musste ich mich schon, denn die Erzählerin erzählt, wie mir erst später auffiel, als ältere Frau, dem Alkohol verfallen, von ihrer ersten Jugendliebe in Indochina. Sie erzählt in fragmentarischen Erinnerungen. Es wird wie gewürfelt unchronologisch hin–und hergesprungen. Trotzdem geht der Überblick nicht verloren. Es geht um die Liebe des weißen fünfzehnjährigen Mädchens zu einem älteren Chinesen. Dieses ist letzendlich jedoch zweitrangig, wird doch das Verhältnis des Mädches zu ihrer Mutter und zu den beiden Brüder im Roman weitaus differenzierter erzählt.
Es geht um gesellschaftliche Konventionen. Von vorne herein wird eine dauernde Beziehung zwischen dem weißen Mädchen und dem Chinesen unmöglich gemacht. Der Chinese wird während eines Treffens mit der Familie regelrecht totgeschwiegen. Mutters Liebling ist der ältere Bruder, der sich aber zum Versager entwickelt. Für das Mädchen wurde eine berufliche Karriere von vorne herein nicht für möglich gehalten. Das Mädchen wird von der Mutter für die Männer aufreizend angekleidet, andererseits wegen ihrem Verhältnis zum reichen Chinesen verprügelt. Der psychisch labilen Mutter geht es ums Geld, ums Überleben, notfalls würde sie ihre Tochter auf den Strich schicken. Wenn wir nun bedenken, dass dieser Roman autobiografisch ist, heißt es, dass das Mädchen im Gegensatz zu ihren Brüdern die erfolgreichste geworden ist: Eine großarige Schriftstellerin.
Ein wundervolles, sprachlich sehr gekonntes Werk einfach deshalb, weil Marguerite Duras in Kurzbündigkeit der Sprache unendliche Welten im Geiste des Lesers schaffen kann. Dieses lässt sich am besten an einigen Beispielen belegen:
Die Überfahrt über den Mekong ist ein Symbol des Übergangs zum Erwachsenenwerdens. Im Alter von achtzehn Jahren begann ihr Gesicht zu altern. Das ist doch herrlich, das Gesicht als Fußspur des Alterungsprozesses, und als Vorausschau auf das Leben:
Duras hat geschrieben:Dieses vom Alkohol gezeichnete Gesicht habe ich vor dem Alkohol bekommen.
Sehr bemerkenswert ist, und daran sehen wir, wie das Mädchen unter ihrer Familie gelitten hat, dass sie ihre Brüder und Mutter vergessen hat, nachdem diese gestorben waren. Sie erinnert sich nicht mehr an die Stimme ihrer Mutter, nicht an den Duft ihrer Haut usw. und schließlich:
Duras hat geschrieben:Darum fällt es mir jetzt so leicht, über sie zu schreiben, so ausführlich, so gelassen, sie ist zur Schreibschrift geworden.
Hammerharte Wirkung haben diese Worte, finde ich.
Im Zimmer ist das Paar allein, draußen in der Sommerhitze gehen Menschen vorbei. Sehr schön finde ich die Worte über Jalousien und Schatten:
Duras hat geschrieben:An den Fenstern gibt es keine Scheiben, nur Stores und Jalousien. Auf den Vorhängen sieht man die Schatten der Leute, die in der Sonne auf dem Gehsteig vorübergehen. Die Menschenmengen sind immer gewaltig. Die Schatten sind gleichmäßig gestreift durch die Sprossen der Jalousien.
Dieses Bild sagt mir, sind sind umgeben von Menschen und doch allein, allein in ihrer Intimität. Der Geschlechtsakt wird mit Schmerz und Tränen umschrieben. Irgendwie einsam.
Sehr beeindruckt hat mich die Beschreibung des schönen Körpers ihrer Kommolitonin Hélène Lagonelle.
Duras hat geschrieben:Der Körper von Hélène Lagonelle ist schwer unschuldig noch, die Zartheit ihrer Haut ist die gewisser Früchte, kaum faßbar, ein wenig trügerisch, nicht auszuhalten. Hélène Lagonelle weckt das Verlangen, sie zu töten, sie ruft den wunderbaren Traum wach, sie mit eigenen Händen umzubringen. Ihre köstlichen Formen trägt sie ohne Wissen zur Schau, sie zeigt diese Dinge, die von Händen geknetet, von einem Mund verschlungen werden wollen, ohne sich zu besinnen, ohne etwas von ihnen zu wissen, ohne auch nur etwas von ihrer sagenhaften Macht zu wissen.
War der Roman nach seinem erscheinen deswegen ein Skandal? Ich finde diese Art der Prosa wundervoll. Ehrlich alles herausgeschrieben. Warum haben wir Menschen, wenn wir etwas wunderbares sehen, den Tod im Hinterkopf. Im Zitat, lustmörderische Fantasien, beim Anblick eines schönen Menschen. das Geschlecht spielt hier keine Rolle. Die Schönheit wollüstig anpacken, so dass sie unter den Händen stirbt. Sich der Schönheit einverleiben bis zum Tod. Das hat ja durchaus etwas kannabalistisches. Oder etwas variiert: sich einmal in höchsten Sphären verlieben und dann sterben, weil das Leben nichts Höheres an Gefühl bieten kann. Darüber hat sich sicher schon jeder Gedanken gemacht, wagt es aber nicht auszusprechen. Eros und Thanatos, zwei Brüder.
Meine Gedanken entfalten sich während des Schreibens an der Tastatur, und ich bin selber erstaunt darüber, was mir da für Gedanken kommen, erstaunt, was Marguerite Duras dem Leser im Ungeschriebenen überlässt. Gerade dieses bürgt für Qualität.
Ich könnte weiter fortfahren, aber das Buch soll ja selber noch gelesen werden. Zum Abschluss noch ein schönes Zitat:
Duras hat geschrieben:Ich erinnere mich kaum an die Tage. Die Helligkeit der Sonne trübte die Farben, erdrückte alles. An die Nächte erinnere ich mich. Das Blau war ferner als der Himmel, es lag hinter allen Schichten aus Schwärze, es bedeckte den Grund der Welt. Der Himmel war für mich jene Spur reinen Glanzes, die das Blau durchquert, jene kühle Verschmelzung jenseits aller Farbe.
Liebe Früße
mombour