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Duras, Marguerite - Der Liebhaber




Duras, Marguerite - Der Liebhaber

Beitragvon chip » 28.03.2009, 00:22

Sie blättert in den Seiten ihrer Vergangenheit, ein Blick auf alte Fotografien, schwarz-weiß, verblasst. Sie erkennt darin ihre Kindheit wieder und spürt den Schmerz von einst, den sie in all den Jahren nie losgeworden ist. Eine peinigende Traurigkeit dominiert, wenn eine Szene verblendet ans grelle Tageslicht hervor kriecht. Hilflos muss sie zusehen, wie diese Szene andere Szenen anlockt und wie sie sich vermehren als wenn eine Krankheit ihren Geist befällt. Ein Ausflug in ihre Kindheit steht ihr bevor, ins Land der ungebrochenen Tabus, über Straßen unausgesprochener Dinge. Eine raue, erbarmungslose Wanderung in die unverarbeiteten Abgründe ihres Innern. Sie erzählt eine wahre Geschichte, ihre Geschichte, mit jener Ausdrucksfähigkeit, aus der Theater, Film und Literatur ständig zu zehren bereit sind, um Fiktion darzustellen. Eine Handvoll Wörter, die einen ganzen Kosmos bergen. In stillen, ernsten und bestimmten Worten kleidet Duras ihr entstehendes Mosaik an Erinnerungen. Dieser autobiografische Kern ist geschrieben wie ein Gedicht, und wer wird wohl bestrebt sein, ein Gedicht zusammenfassen zu wollen. Fragmente, Erinnerungsfetzen, Schweigen, Demut, Liebe, Tod. Lose Sätze, die fortgetrieben würden, hätten sie nicht die lastende Schwermütigkeit zu tragen. Ein Gedicht … eingenäht im Stoffgewebe der Prosa.

Es ist wohl eine aufs äußerste aufgeschobene, eine längst überfällige Reise, die ihren Weg ans Licht sucht und die wohl ohne Stolz und Ehre auskommen muss, drüben im franz. Indochina, als Fremde unter Fremden. Mit fünfzehn Jahren sieht sie sich mit fast durchsichtigem Kleid, goldenen Schuhen und Strohhut am Rande des Mekong stehen. Ihre frühreife Vorahnung zeichnet sich in ihren kindlichen Gesichtszügen ab, sie beargwöhnt ihren freizügigen Auftritt, der sie eigentlich lächerlich machen müsste. Doch niemand lacht. Eine Bettlerin im Gewand einer Königin im dunklen Schatten der Erniedrigung. Sie erkennt ihre Pflicht als Familienmitglied nachdem ein junger, reicher Mann sie anspricht. Ihr wird die ihr zugewiesene Rolle in diesem dramatischen Stück bewusst und spielt sie mit fabelhafter Hingabe; ohne Koketterie, doch erhaben. Sie verdreht dem Liebhaber den Kopf durch die eifrige Selbstlosigkeit in hoffender Erwartung einer hohen Gage; das Publikum applaudiert, er verliebt sich, möchte sie heiraten, ihm zuliebe hängt sie noch eine Zugabe an ihren Auftritt.

Der Lärm der Stadt ist so greifbar nah, dass man hört, wie er ans Holz der Jalousien schlägt. Es dröhnt, als gehe die Menschenmenge durchs Zimmer. Ich liebkose seinen Körper in diesem Lärm der durchziehenden Menge. Das Meer, die Unendlichkeit, die sich formt, sich entfernt, zurückkehrt. Ich hatte ihn gebeten, es wieder und wieder zu tun. Es mir zu tun. Er hat es getan. Er hat es getan im Seim des Bluts. Und das war zum Sterben schön. Zum Sterben.

Gezeichnet ist sie, ein treibender Baumstumpf im anrüchigen Schlamm, und wird ihr der skandalträchtige Ruf bewusst, verstummt sie, meidet sie das „ich“ und redet über sich wie von einem fremden Kind. Das Geld bringt sie ihrer Mutter, die es unkommentiert entgegennimmt, solange die Gesellschaft die Liebesbeziehung nicht mitkriegt. Ansonsten drohen ihr Schläge, weil sie den Ruf der Familie beschädigt hat. Das Schweigen dominiert im Elternhaus. Die Armut hat tiefe Krater in die Familienstruktur gegraben, dessen „Teilnehmer“ bis auf das gemeinsame Blut ohne Bindung sind. Die Liebe der Mutter zu ihrer Tochter und den beiden Söhnen wurde längst gepfändet, um die Misere zu bekämpfen. Die Fesseln einer bekennenden Hassliebe zwischen Mutter und Tochter werden zum Hindernis, zum Gegenstand eines immerwährenden Kampfes, eines aussichtslosen Kampfes, eines Konfliktes ohne Sieger. Dabei mag die Mutter weder Schwächen zeigen, noch empfindet sie Wohlwollen zu den Schwachen. Sie, die Verrückte von Saigon, sucht Trost bei ihrem ältesten Sohn. Ihn unterstützt sie, ihn, den brutalen Despoten, der verzweifelt um sich schlägt.

Ich sehe den Krieg in denselben Farben wie meine Kindheit. Ich verwechsle die Kriegszeit mit der Herrschaft meines älteren Bruders. […] Der Krieg erscheint mir wie er: er breitet sich überall aus, dringt überall ein, stiehlt, nimmt gefangen, ist allgegenwärtig, mit allem vermischt, in alles verwickelt, anwesend im Körper, im Denken, im Wachen, im Schlaf…

Ein Kampf um gerechte Liebe, um Aufmerksamkeit, um Anerkennung. Doch verlieren tun sie alle. Sie sind in ihren Bemühungen gescheitert, lange bevor sie nach Frankreich übersiedeln. Die einzige Liebe, die Marguerite in Vietnam empfing, war die des Liebhabers. Eine verbotene Liebe, die unerfüllt nach Europa ausgewandert ist. Ein makabrer Umstand, gerettet von einem Hauch Geborgenheit vor der drohenden Endgültigkeit.

Der Körper meines Bruders ist tot. Die Unsterblichkeit ist mit ihm gestorben.
:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Gruß,
chip

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Beitragvon wolves » 28.03.2009, 09:55

Das ist so ewig her, dass ich das Buch gelesen habe. Danke @chip, dass du mit deiner Rezi wieder meine Erinnerung daran geweckt hattest. Mir hatte das Buch auch sehr gut gefallen. Wenn ich mich recht erinnere, steigen da allerdings die Meinungen arg auseinander.
Liebe Grüße
wolves


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Re: Duras, Marguerite - Der Liebhaber

Beitragvon Krümel » 22.06.2010, 11:01

Ein absolutes Atmosphärenbuch!

Scheibchen für Scheibchen liest sich der Leser in diese beklemmende Stimmung hinein. In Rückblenden erzählt das alternde Ich aus ihrer Kindheit in Indochina. Mit 15 ein halb Jahren lernt sie auf der Überfahrt zum Internat den reichen Chinesen kennen, und geht mit ihm eine Affäre ein. Er ist doppelt so alt, schüchtern und zerbrechlich, und ihre gesellschaftliche Herkunft wird durch diese Liaison untermauert.

Sie ist die französische Weiße, eine Schönheit mit ihrem abgetragen weiß-durchsichtigen Seidenkleid, dem Männerhut und den goldenen Schuhen. Und sie flüchtet in diese einseitige Liebesbeziehung, weg von ihren Brüdern, ihrer Mutter und am Ende aus dem Land. Sie will Schriftstellerin werden und keine Mathematikerin!

Großartig transportiert Duras diese Gefühlswelt. Eine Atmosphäre, die so hoffnungslos, niederschmetternd und trostlos ist, so dass dem Leser nichts anderes bleibt als diese Stimmung in sich aufzusaugen. Perfekt!

Marguerite Duras wurde 1914 in Giadinh/Indochina geboren, lebte seit 1932 in Frankreich und etablierte sich zu einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Sie verstarb 1996 in Paris.
BildLiebe Grüße,
Krümel



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Re: Duras, Marguerite - Der Liebhaber

Beitragvon mombour » 08.09.2010, 19:57

"Der Liebhaber"

Ein wenig warmlesen musste ich mich schon, denn die Erzählerin erzählt, wie mir erst später auffiel, als ältere Frau, dem Alkohol verfallen, von ihrer ersten Jugendliebe in Indochina. Sie erzählt in fragmentarischen Erinnerungen. Es wird wie gewürfelt unchronologisch hin–und hergesprungen. Trotzdem geht der Überblick nicht verloren. Es geht um die Liebe des weißen fünfzehnjährigen Mädchens zu einem älteren Chinesen. Dieses ist letzendlich jedoch zweitrangig, wird doch das Verhältnis des Mädches zu ihrer Mutter und zu den beiden Brüder im Roman weitaus differenzierter erzählt.

Es geht um gesellschaftliche Konventionen. Von vorne herein wird eine dauernde Beziehung zwischen dem weißen Mädchen und dem Chinesen unmöglich gemacht. Der Chinese wird während eines Treffens mit der Familie regelrecht totgeschwiegen. Mutters Liebling ist der ältere Bruder, der sich aber zum Versager entwickelt. Für das Mädchen wurde eine berufliche Karriere von vorne herein nicht für möglich gehalten. Das Mädchen wird von der Mutter für die Männer aufreizend angekleidet, andererseits wegen ihrem Verhältnis zum reichen Chinesen verprügelt. Der psychisch labilen Mutter geht es ums Geld, ums Überleben, notfalls würde sie ihre Tochter auf den Strich schicken. Wenn wir nun bedenken, dass dieser Roman autobiografisch ist, heißt es, dass das Mädchen im Gegensatz zu ihren Brüdern die erfolgreichste geworden ist: Eine großarige Schriftstellerin.

Ein wundervolles, sprachlich sehr gekonntes Werk einfach deshalb, weil Marguerite Duras in Kurzbündigkeit der Sprache unendliche Welten im Geiste des Lesers schaffen kann. Dieses lässt sich am besten an einigen Beispielen belegen:

Die Überfahrt über den Mekong ist ein Symbol des Übergangs zum Erwachsenenwerdens. Im Alter von achtzehn Jahren begann ihr Gesicht zu altern. Das ist doch herrlich, das Gesicht als Fußspur des Alterungsprozesses, und als Vorausschau auf das Leben:
Duras hat geschrieben:Dieses vom Alkohol gezeichnete Gesicht habe ich vor dem Alkohol bekommen.


Sehr bemerkenswert ist, und daran sehen wir, wie das Mädchen unter ihrer Familie gelitten hat, dass sie ihre Brüder und Mutter vergessen hat, nachdem diese gestorben waren. Sie erinnert sich nicht mehr an die Stimme ihrer Mutter, nicht an den Duft ihrer Haut usw. und schließlich:

Duras hat geschrieben:Darum fällt es mir jetzt so leicht, über sie zu schreiben, so ausführlich, so gelassen, sie ist zur Schreibschrift geworden.


Hammerharte Wirkung haben diese Worte, finde ich.

Im Zimmer ist das Paar allein, draußen in der Sommerhitze gehen Menschen vorbei. Sehr schön finde ich die Worte über Jalousien und Schatten:

Duras hat geschrieben:An den Fenstern gibt es keine Scheiben, nur Stores und Jalousien. Auf den Vorhängen sieht man die Schatten der Leute, die in der Sonne auf dem Gehsteig vorübergehen. Die Menschenmengen sind immer gewaltig. Die Schatten sind gleichmäßig gestreift durch die Sprossen der Jalousien.


Dieses Bild sagt mir, sind sind umgeben von Menschen und doch allein, allein in ihrer Intimität. Der Geschlechtsakt wird mit Schmerz und Tränen umschrieben. Irgendwie einsam.

Sehr beeindruckt hat mich die Beschreibung des schönen Körpers ihrer Kommolitonin Hélène Lagonelle.

Duras hat geschrieben:Der Körper von Hélène Lagonelle ist schwer unschuldig noch, die Zartheit ihrer Haut ist die gewisser Früchte, kaum faßbar, ein wenig trügerisch, nicht auszuhalten. Hélène Lagonelle weckt das Verlangen, sie zu töten, sie ruft den wunderbaren Traum wach, sie mit eigenen Händen umzubringen. Ihre köstlichen Formen trägt sie ohne Wissen zur Schau, sie zeigt diese Dinge, die von Händen geknetet, von einem Mund verschlungen werden wollen, ohne sich zu besinnen, ohne etwas von ihnen zu wissen, ohne auch nur etwas von ihrer sagenhaften Macht zu wissen.


War der Roman nach seinem erscheinen deswegen ein Skandal? Ich finde diese Art der Prosa wundervoll. Ehrlich alles herausgeschrieben. Warum haben wir Menschen, wenn wir etwas wunderbares sehen, den Tod im Hinterkopf. Im Zitat, lustmörderische Fantasien, beim Anblick eines schönen Menschen. das Geschlecht spielt hier keine Rolle. Die Schönheit wollüstig anpacken, so dass sie unter den Händen stirbt. Sich der Schönheit einverleiben bis zum Tod. Das hat ja durchaus etwas kannabalistisches. Oder etwas variiert: sich einmal in höchsten Sphären verlieben und dann sterben, weil das Leben nichts Höheres an Gefühl bieten kann. Darüber hat sich sicher schon jeder Gedanken gemacht, wagt es aber nicht auszusprechen. Eros und Thanatos, zwei Brüder.

Meine Gedanken entfalten sich während des Schreibens an der Tastatur, und ich bin selber erstaunt darüber, was mir da für Gedanken kommen, erstaunt, was Marguerite Duras dem Leser im Ungeschriebenen überlässt. Gerade dieses bürgt für Qualität.

Ich könnte weiter fortfahren, aber das Buch soll ja selber noch gelesen werden. Zum Abschluss noch ein schönes Zitat:
Duras hat geschrieben:Ich erinnere mich kaum an die Tage. Die Helligkeit der Sonne trübte die Farben, erdrückte alles. An die Nächte erinnere ich mich. Das Blau war ferner als der Himmel, es lag hinter allen Schichten aus Schwärze, es bedeckte den Grund der Welt. Der Himmel war für mich jene Spur reinen Glanzes, die das Blau durchquert, jene kühle Verschmelzung jenseits aller Farbe.


Liebe Früße
mombour
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