Krümels-Bücherwelt ...

... ein Literaturforum der anderen Art

Canetti, Elias - Die Blendung




Canetti, Elias - Die Blendung

Beitragvon chip » 17.05.2009, 06:54

Die Welt des Gelehrten Peter Kien ist die Wissenschaft, die Bibliothek ist ihr Zentrum. Eine kleine, geschlossene Welt, in der alle Vorgänge peinlich und diszipliniert ablaufen. Ein Mikrokosmos, wo Bücher als der einzige soziale Kontakt fungieren. Kiens Handlungen und Gedanken rotieren in dieser isolierten Zelle, die keinen Weg nach außen finden. Ebenso können äußere Strömungen nicht ungefiltert hineingelangen, ohne gleich mit der beschränkten wissenschaftlichen Denkart Kiens in Berührung zu kommen. Auswirkung dieses Systems sind Missverständnisse, Zweideutigkeiten, Einbildungen, Selbsttäuschungen … sind Blendwerk.

Kiens Unglück beginnt, als ein Fremdkörper in seine Welt gelangt. Durch ein Missverständnis heiratet Kien seine Haushälterin Therese, sie zieht bei ihm ein. Eine ungebildete, unattraktive Frau, die wiederum ihre Interessen verteidigt. Ihre gesellschaftliche Stellung liegt im Blickpunkt, sichert sich nach und nach ihren Freiraum durch den Einkauf von Möbel, sie erweitert ihr Territorium, bis Kien gänzlich aus der Wohnung verdrängt wird. Auch das Geld, Kiens Geld, soll zur Absicherung des Wohlstandes dienen. Materielle Gier gegen geistige Wissenschaft, ein unausgewogener Kampf, zwei gegensätzliche Welten, die hier aufeinander prallen.

Heimatlos irrt Kien verloren durch die Straßen der Stadt und wird dort mit der Masse konfrontiert, die von einem ihnen innewohnenden verankerten Grundgedanken getrieben sind. Eine Horde gescheuchter Menschen, die mit Tunnelblick zielstrebig ihrem eigenen Interessensgebiet entgegensteuern, ohne Hemmung, auf kriminelle Methoden zurückzugreifen. Der Irrsinn ist allgegenwärtig, zügellos unterspült er die Straßen. Individuen in kleine isolierte Hüllen gepackt, zur Kommunikation unfähig, Einzeller ohne Verständnis für seinen Nächsten. Jede einzelne Figur lebt rein egoistisch für ihre Bedürfnisse, will bei jeder Äußerung sogleich eine Bedrohung seiner Begierden erkennen. Sie sind unfähig, als Gemeinschaft zu existieren. Der Wahn greift um sich, und so muss auch der realitätsferne Kien an der Wirklichkeit scheitern.

Canetti stellt die Menschheit bloß, indem er mittels skurriler Episoden die Oberflächlichkeit des gesellschaftlichen Agierens aufdeckt. Das sprachliche Unvermögen wird mit leicht überzeichneten Darstellungen und Dialogen veranschaulicht Die eigentliche Leistung Canettis aber ist die sprachliche Gewalt, seine meisterhaften Wortspielereien und die Vorführung des wahnfiebrigen Anstiegs durch abgehackte Sätze.
Ich gebe zu, das vorliegende Buch ist trotz einfachem Satzbau nicht immer eine einfache Angelegenheit. Doch wie meinte ein Rezensent schon vor mir: "Dieses Buch ist wie ein Drache, den man besiegen muss, um an seinen Kleinod zu gelangen."

Die erste französische Ausgabe wurde mit „La Tour de Babel“ betitelt.
In der Bibel wird das Turmbau-Vorhaben als Versuch der Menschheit gewertet, Gott gleichzukommen. Wegen dieser Selbstüberhebung straft Gott die Völker, die zuvor eine gemeinsame Sprache hatten, mit Sprachverwirrung und zerstreut sie über die ganze Erde.
Babel = Geplapper (hebr.) (Quelle: Wikipedia)

:stern: :stern: :stern: :stern: :stern:

Bild
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

von Anzeige » 17.05.2009, 06:54

Anzeige
 

Beitragvon Susannah » 17.05.2009, 09:03

Danke für die tolle Rezi, Chip! Es ist Jahre her, dass ich "Die Blendung" gelesen habe und obwohl ich mich eigentlich noch gut daran erinnern kann, hast du doch ein paar Details wieder hervorgeholt.

Großartig sind übrigens auch "Die gerettete Zunge" und "Die Fackel im Ohr". Weniger gefallen hat mir "Die Hochzeit", aber vielleicht habe ich damals auch nur zu viele Canettis hintereinander gelesen.
Nichts ist schöner und nichts erfordert mehr Charakter als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!
(Kurt Tucholsky)
Susannah
Allrounderin
Allrounderin
 
Beiträge: 1118
Registriert: 07.11.2006, 21:32
Wohnort: Krieglach

Beitragvon Krümel » 17.05.2009, 10:21

Ui prima chip, setzt du sie morgen ins Blog?
Ich werde allerdings deine Rezi erst nach Beendigung lesen :wink:
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon chip » 17.05.2009, 18:06

Vielen Dank Susannah! :D Canetti gefiel mir hier auch wesentlich besser als mit seinem Reisetext zu Marrakesch. Die Lektüre liegt zwar schon eine Weile zurück, aus heutiger Sicht scheint mir dieser Text zu idyllisch, mit einer ordentlichen Prise an Urlaubsfeeling. Und durch die Tatsache, dass Marokko sich nicht sonderlich von Tunesien unterscheidet :D

@Krümel, gerne.
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

Beitragvon Monika » 17.05.2009, 18:27

@ chip, prima, dass Du die Rezension des Canetti übernommen hast, die Krümel mir heimtückisch aufdrücken wollte. Stellst Du sie auch im Bt ein oder muss ich da doch noch ran? Ich werde mich auch noch kurz hier äußern, wenn ich das Buch durch habe (komme wegen Übersetzungsarbeiten wieder kaum zum Lesen). Aber Du hast ja schon alles bestens dargelegt.
Das Marrakesch-Buch war mein erstes von Canetti und hat mir auch nicht besonders gefallen. Ich fand es ziemlich belanglos.
Gruß Monika


Sigrid Damm - Ich bin nicht Ottilie
Jean-Luc Bannalec - Bretonische Verhältnisse
Jung Chang - Wilde Schwäne

Benutzeravatar
Monika
Buchstaplerin
Buchstaplerin
 
Beiträge: 831
Registriert: 19.01.2009, 10:35
Wohnort: Italien

Beitragvon chip » 17.05.2009, 20:45

Ich bin kein Mitglied mehr des BT's. Da wirst Du wohl nicht dran vorbei kommen. Und ehrlich gesagt, ich bedaure es nicht :wink:
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

Beitragvon Krümel » 17.05.2009, 21:04

Monika hat geschrieben: , die Krümel mir heimtückisch aufdrücken wollte.


heimtückisch tz-tz-tz ...
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Monika » 18.05.2009, 10:31

chip hat geschrieben:Ich bin kein Mitglied mehr des BT's. Da wirst Du wohl nicht dran vorbei kommen. Und ehrlich gesagt, ich bedaure es nicht :wink:

Was bedauerst Du nicht? Dass Du nicht mehr im BT bist oder dass ich jetzt doch noch eine Rezi zum Canetti schreiben muss?
Gruß Monika


Sigrid Damm - Ich bin nicht Ottilie
Jean-Luc Bannalec - Bretonische Verhältnisse
Jung Chang - Wilde Schwäne

Benutzeravatar
Monika
Buchstaplerin
Buchstaplerin
 
Beiträge: 831
Registriert: 19.01.2009, 10:35
Wohnort: Italien

Beitragvon Krümel » 18.05.2009, 11:09

He, he, he, ich bin auch noch da, vielleicht schreibe ich auch eine Rezi :lol:
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon chip » 18.05.2009, 19:44

Monika hat geschrieben:
chip hat geschrieben:Ich bin kein Mitglied mehr des BT's. Da wirst Du wohl nicht dran vorbei kommen. Und ehrlich gesagt, ich bedaure es nicht :wink:

Was bedauerst Du nicht? Dass Du nicht mehr im BT bist oder dass ich jetzt doch noch eine Rezi zum Canetti schreiben muss?

Eigentlich beides. Gerne würde ich deine zusammenfassenden Gedanken nachlesen.
chip
Ehrendoktor
Ehrendoktor
 
Beiträge: 868
Registriert: 16.10.2008, 08:45

Beitragvon Krümel » 04.06.2009, 09:49

Bild

Eine Satire über den „menschlichen Makel“.

Canetti verwendet in seinem Roman ausschließlich Figuren, die sehr stark ausgewählt sind, Besonderheiten darstellen, und jede für sich ein Unikat ergibt.
Dadurch wird eines direkt klar, dass das Werk von der Übertreibung lebt, und es in dieser leichten und humorvollen Art die menschlichen Macken spiegelt.

Peter Kien ist der „Größte lebende Sinologe“ und besitzt eine sagenhafte Bibliothek von 25.000 Bänden. Sein Arbeitstag ist straff durchorganisiert. Jede Universität würde ihn liebend gerne als Dozent gewinnen und von seinem Wissen profitieren, aber Kien schlägt jedes Angebot ab, da er sich nur seiner wissenschaftlichen Tätigkeit widmen möchte. Diese Arbeiten sind ein Vermögen wert und lagern unbeachtet in der Schreibtischschublade.
Den Haushalt besorgt ihm Therese, seine Wirtschafterin, die schon 8 Jahre seine Bücher pflegt und Kiens Essen zubereitet.

Die Handlung beginnt nun damit, dass Kien einen Wissensdurst an Therese vermutet, ihr ein Buch aus seiner unglaublichen Bibliothek ausleiht, und sie es mit weißen Handschuhen liest. Daraus entsteht bei Kien ein folgeschweres Bild von seiner Wirtschafterin, so dass er den Wunsch verspürt sie zu ehelichen, damit seine Bände immer so sorgfältig von ihr gepflegt werden. Die Heirat vollzieht sich auch rasch und ohne große Komplikationen.

Therese ist eine weitere außergewöhnliche Figur im Roman. Sie geilt an unbändiger Sexlust. Eigentlich ist sie schon über 50 zig, hässlich und sehr ungebildet, doch ihr eigenes Bild von sich ist das genaue Gegenteil: 30 zig mit wiegenden Hüften, kokett und clever.

In der Hochzeitsnacht will sie unbedingt ihren Gatten verführen, aber sie erreicht beim belesenen Intellektuellen gar nichts! Das führt dazu, dass Thereses Sexgier in einer ausufernden Ersatzbefriedigung umschlägt, nämlich die der Geldgier. Sie zieht Kien fast bis zum letzten Hemd aus und vertreibt ihn aus der Wohnung. Draußen in der großen weiten Welt trifft Kien Fischerle, den größten Schachspieler aller Zeiten …

Und so spannt sich das Netz um seine Thematik, und selbst der Bruder von Kien, den Menschenversteher, landet zum Schluss in diesem Netz. Es gibt eben kein Entkommen!
Jede Figur im Werk lebt ganz steril in ihrer eigenen Welt, die Welten der anderen werden nicht verstanden, da nicht kompatibel. Und so entstehen Missverständnisse über Missverständnisse. Man redet aneinander vorbei. Man pikt sich nur die Aussagen heraus, die für einen selber ins Bild passen. Es kommt sogar zum großen Show-down!

Die Rettung scheint Georg zu sein, aber auch dieser versagt. Und was bleibt?

Dass eben nur der verständige Leser seine wahre Analyse erhebt und den Durchblick behält. Aber Vorsicht! Gut gemeinte Interpretationen können auch nach hinten losgehen.

Elias Canetti wurde am 25. Juli 1905 in Bulgarien geboren, und zog 1911 mit seinen Eltern nach England, zwei Jahre später, nach dem Tod seines Vaters, nach Wien. Er studierte Naturwissenschaften und Philosophie. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg musste er wieder nach England emigrieren und schrieb dort sein Hauptwerk „Masse und Macht“. Er verstarb 1994.
Sein autobiographisches Werk ist die Trilogie: „Die gerettete Zunge“, „Die Fackel im Ohr“ und „Das Augenspiel“, ergänzt durch „Party im Blitz“. 1981 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Bewertung: :stern: :stern: :stern: :stern:
BildLiebe Grüße,
Krümel



:lesen3: Klaus Mann - Mephisto
Gedankenwelten
Benutzeravatar
Krümel
Chefkrümel
Chefkrümel
 
Beiträge: 13522
Registriert: 18.04.2006, 23:00
Wohnort: Ostfriesland

Beitragvon Coco » 26.07.2009, 08:29

Der Inhalt dieses Buches wurde hier ja bereits erzählt und ich möchte mich nun nicht wiederholen. Wobei es natürlich sein könnte, dass ich es ganz anders gelesen habe, von ganz anderen Figuren spreche, die ganz andere Episoden erlebt haben – ich hier eben meine Realität wiedergebe. Nun denn ....

Dieses Buch ist voller Symbole und Metaphern. Kaum ein Kapitel das nicht auf etwas hinweisen möchte, wobei die Skurrilität und Überzogenheit von Seite zu Seite zunimmt.

Die Protagonisten leben in ihrer Realität und sind nicht im Stande ihr Gegenüber oder die Welt ansich, wahrzunehmen. Sie handeln nach ihrer Wirklichkeit.
Hier wirft sich natürlich vor allem die Frage auf: gibt es eine wirkliche Realität, eine objektive Realität? Ist ein Mensch so wie er meint zu sein oder so wie ihn andere wahrnehmen? Was ist wahr? Wo beginnt der Wahnsinn?
Was geschieht nun aber, wenn Menschen mit unterschiedlichen Realitätsauffassungen aufeinander treffen? Neben der Tatsache, dass sie sich gegenseitig zu manipulieren, suchen entsteht Chaos.
Ansich interessante Gedanken die Canetti hier aufgreift – betrachtet man vor allem, dass gerade zur Entstehungszeit dieses Romanes, Siegmund Freud mit seinen Theorien mehr und mehr von sich reden machte.

Und dennoch kam dieses Buch nicht bei mir an, berührte mich kaum an irgendeinem Punkt, streckenweise langweilte es mich sehr. Mag sein, dass es an der Sprache lag, an endlosen Ergüssen über chinesische Gelehrte und deren Theorien oder aber auch an Handlungssträngen, die ich als einfach total verworren empfand. Selten kam der Wunsch bei mir auf, Handlungen oder Aussagen zu reflektieren oder zu analysieren, einzelne Protagonisten näher zu betrachten, Handlungen zu hinterfragen.

Einzig fragte ich mich, welche Probleme, man könnte fast meinen, es ist Angst, Canetti mit Frauen hatte.

Marcel Reich-Ranitzky sagte einmal: „das Beste was einem bei einem Buch passieren kann ist, dass das Lesen Spaß macht...“
Mir hat das Lesen dieses Buches keinen Spaß gemacht!

Und um einen Vorredner hier zu zitieren: Ich muss diesen Drachen nicht besiegen, von mir aus kann er weiter schlafen!
Liebe Grüsse
Coco

-----------

:studie:

Charlotte Bronte - Villette
Gerhard Henschel - Abenteuerroman
Benutzeravatar
Coco
Susi Sunshine
Susi Sunshine
 
Beiträge: 4718
Registriert: 04.04.2007, 07:44
Wohnort: Darmstadt


Zurück zu Weltliteratur/Klassiker

Wer ist online?

0 Mitglieder

cron