Krümels-Bücherwelt ...

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Pap, Kàroly – Azarel




Pap, Kàroly – Azarel

Beitragvon alixe » 09.09.2008, 09:38

Bild




Gyuri Azarel, das dritte Kind eines ungarischen Rabbiners verbringt die ersten Lebensjahre bei seinem Großvater Jeremia, der den kleinen Jungen auf eine Reise nach Jerusalem vorbereitet um aus ihm einen wahren Juden zu machen, der nicht, wie Jeremias Söhne und vor allem Gyuris Vater ein Opfer der Assimilation werden soll.
Der Großvater lebt in einem Zelt, fastet sich zu Tode, reinigt sich täglich im eiskalten Fluss, verbrennt Kleidung und Spielzeug des Buben und fesselt ihn mit einem Gebetsschal an sich.
Gyuri hat Angst, Angst vor dem Großvater, Angst vor den Mauern, den Pflanzen und den Steinen.

Zitat
Mich ängstigten die Farben und die Stimmen, mich ängstigten das Bleiben und die Flucht. Das Mauerwerk am Synagogenhof, das die Vorfahren aus alten Trümmerstücken errichtet hatten, war angefüllt mit unförmigen Steinen, deren außergewöhnliche Formen mich noch mehr erschreckten als der offene Hinterhof mit dem freien Weg zu den Gräbern, woher farbtrunkenes Gestrüpp herüberdrohte. Ich sah darin lebendige, bunte Tiere, die reglos dastanden, um mich einzuschüchtern und den Weg zu versperren, wenn ich vor Großvaters Gemurmel und dem Singsang der Schüler fliehen wollte. Die Steine faszinierten mich, Schädel von Riesen aus alten Zeiten starrten mich an, aus den Hohlräumen und Rissen ihrer Münder grinste buntes Geißblatt herüber.


Doch der Großvater stirbt und Gyuri kehrt in den Schoss seiner Familie zurück. Die anfängliche Liebe zu den Eltern und den zwei älteren Geschwistern dezimiert sich je älter der Junge wird.
Gyuri sehnt sich nach Liebe und Zuwendung, für die jedoch kein Platz in diesem Haushalt ist. Geldsorgen und das Ansehen des Vaters als Rabbiner sind die Hauptthemen der Eltern während den gemeinsamen Mahlzeiten.

Zitat
Während des Essens spricht er dauernd mit Mutter, und voller Bitternis vernehme ich, dass auch er immer nur von dem spricht, was Geld gekostet hat oder kosten wird. Außer, dass wir gut lernen, scheint mir dies das einzige, worum sich Vater kümmert, und ich denke mit Hass und Furcht an das Geld, von dem meine Eltern anscheinend immer zu wenig haben, obwohl doch alles Geld kostet, was es gibt, auch das , was wir jetzt bei Tisch aufessen. Einmal denke ich daran, wie gut es wäre, nicht essen zu müssen und nicht so hungrig zu sein, wie ich es immer bin. Dann überlege ich, wenn wir mehr Geld Hätten, ob sie sich dann mehr um mich kümmern, mich heftiger küssten und mich fragen würden, was mir passiert sei. Ich weiß es nicht, aber ich esse das, was sie mir vorlegen, mit wachsender Beschämung.


Gyuris Neugier und Wissensgier werden belächelt, seine Sorgen, seine Sehnsüchte nicht ernst genommen, bis es fast zu einem Suizidversuch kommt, worauf der Junge von seinem Vater halbtot geschlagen wird.
Gyuri will sich an seinen Eltern rächen und beginnt offen die Existenz Gottes in Frage zu stellen, lauthals am Glauben des sich assimilierten Vater zu zweifeln, droht der Mutter bei einem christlichen Handwerker in Lehre zu gehen und sogar zum Christentum zu konvertieren, er stößt immer mehr auf Unverständnis, wird immer mehr für sein „dummes“ Benehmen bestraft bis er zu Hause wegläuft mit dem Plan, den Vater öffentlich bloßzustellen…

Schon lange hat mich kein Buch so berührt. Mit leidenschaftlicher und doch niemals pathetischer Sprache, beschreibt Pap die tiefe Verwundbarkeit eines intelligenten und sensiblen Kindes. Die Erlebnisse des jungen Gyuri werden aus der Perspektive des erwachsenen Pap kommentiert, was diesem aparten Porträt einen eindrucksvollen psychologischen Tiefgang gibt.

Die stark autobiographische Geschichte erzählt Pap mit bemerkenswerter Schärfe, die ihm 1937 beim Erscheinen seines Buches einen ungewöhnlichen Prozess bescherte.
Der Ungarische Zionistische Verein veranstaltete ein Literaturtribunal, Pap wurde die Erniedrigung der Eltern und die Respektlosigkeit gegenüber dem Rabbinerberuf vorgeworfen.

Károly Pap einer der vielversprechendsten ungarischen Autoren, wurde im Alter von 47 Jahren im Konzentrationslager von Bergen-Belsen ermordet.[/url]
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Beitragvon tom » 09.09.2008, 17:38

Ich ahnte es ja, dass diese Alixe meinen Wunschzettel verlängern wird... Das hört sich sehr gut an. Den Namen von Pap hatte ich mal gehört und vielleicht auch mal was zu dieser Geschichte, doch nun habe ich ihn mir notiert! Danke!
tom
 

Beitragvon alixe » 09.09.2008, 19:45

tom hat geschrieben:Ich ahnte es ja, dass diese Alixe meinen Wunschzettel verlängern wird...

:mrgreen: :mrgreen: :mrgreen: wie du mir, so ich dir, hehe!

Glaub mir, es ist ein besonderes Buch, du wirst es bestimmt nicht bereuen.

herzlichst: Alixe
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Beitragvon wolves » 10.09.2008, 07:04

Gestern konnte ich nichts dazu schreiben, aber jetzt schläft der Mini und ich habe etwas Zeit.
Ich habe es geahnt, da ist sie wieder, die Frau die meinen SuB noch ins unermessliche steigern lässt 8) Rate mal was ich mir gerade bestellt habe :wink: :wink1:
Liebe Grüße
wolves


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Beitragvon alixe » 10.09.2008, 08:55

@wolves: :bussi:

Azarel soll nicht lange subben! 8)

hezlichst: Alixe
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Beitragvon tom » 23.11.2008, 19:53

Bevor ich mich abschließend äußere, werde ich wohl lieber noch was warten..., denn die ersten vierzig Seiten sind sprachlich zwar wunderbar und scharf, doch auch - nun ja - in einer sehr negativen Erfahrung eines Glaubens. Natürlich kann man solchen Erfahrungen persönlicher Art nicht einfach widersprechen: Menschen haben oft solche Erfahrungen gemacht! Doch das tut mir selber zutiefst weh und widerspricht (natürlich!) meinem eigenen Empfinden und Erleben von Religion, bzw. Glauben. Und auch wenn es sich hier um den jüdischen Glauben handelt, fühle ich mich dem eigentlich sehr nahe. Betonung: NICHT den Auswüchsen, aber dem ursprünglich Gemeintem.
tom
 

Beitragvon alixe » 23.11.2008, 20:14

Hallo Tom,

ich bin wirklich gespannt auf deine endgültige Meinung zum diesem Roman, der für mich der Lesehighlight 2007 war.

herzlichst: alixe
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Beitragvon tom » 27.11.2008, 19:10

Ich habe nun das Buch ausgelesen und will noch meine Eindrücke festhalten.

Ja, dieses Buch ist sicherlich was Besonderes und ich habe kaum was Vergleichbares gelesen. Also ein ausdrückliches Danke an Alixe für diese Empfehlung und Entdeckung!!! :thumleft:


Zum Buch selbst, zur Schreibe, sei noch ausdrücklich gesagt – was ja durch die Zitate von Alixe schon klar wurde – dass es sich um eine in Ich-Form gehaltene Erzählung handelt. Die Sprache – ist sie für uns auch nur durch die Übersetzung zu genießen – ist gut. Eventuell wird das Wort „Egoismus“ nicht richtig übersetzt? Im Kontext dachte ich an andere Wörter... Die Geschichte sehr eindringlich. Wie könnte man oberflächlich oder gelangweilt darüber hinweg lesen?

Alixe gab schon eine Inhaltsangabe. Mir fiel u.a. Folgendes auf:

Die Kindheit des kleinen Gyuri erscheint in seinen Worten in weiten Teilen als wahrer Albtraum: Angstbilder, erfahrene Strenge, Lieblosigkeit, Instrumentalisierung... Es erscheint so, dass hier ein Kind quasi erzählt und sprachlich haut das auch oft hin. Doch zur selben Zeit ist es eben der Erwachsene Azarel/Pap, der hier das Erleben des Kindes erzählt und kommentiert, und das schafft meines Erachtens eine Sicht auf die Dinge, die manchmal etwas seltsam und verschoben anmutet, da sie nicht die des Kindes selbst ist, sondern wie von hinten (oder vorne) aufgerollt. Mir erscheint dann, dass es nicht nur einfach eine Schilderung ist, sondern schon eine Analyse. Und wenn wir beim Wort Analyse sind: ja, dieses Buch analysiert das Erleben von Druck, Gewalt etc und scheint einen „Glauben“, eine Religion als Folgen einer Verinnerlichung von Gewalt, Angst etc. zu verstehen. Die verschiedensten Aspekte des menschlichen Wachstums werden hier angesprochen, allerdings alle aus der Sicht eines zutiefst verschüchterten, verängstigten, später revoltierenden, phantasierenden Kindes. Sehr gut werden Übergänge beschrieben und beobachtet! Da wird fast schon ein psychologisches Feingefühl des Autors deutlich! Da wird oft ein Thema sehr gut ausgearbeitet und kreisend mehrmals wieder aufgenommen. Besonders gelungen fand ich z.B. den Mangel der „belebten, phantasievollen Welt“, wo das Kind wirklich zum Sprechen kommt: die Dinge sprechen nicht zu uns und haben keinen Zauber!
Jedoch KANN dies manchmal zu thesenhaft werden: worauf will Pap mit seinem nicht verhüllten Engagement hinaus?

So unterschiedlich der Großvater und sein Sohn, der Rabbi auch sind (sie stellen den Konflikt zwischen orthodoxem und assimiliertem Judentum dar), so werden sie doch recht eindeutig als Vertreter einer toten Religion vorgestellt. Alles wird hier im kindlichen Empfinden scheinbar auseinander genommen: gewisse (biblische) Texte werden in ihrer Widersprüchlichkeit oder anscheinenden Absurdität vorgestellt; die Beweggründe des Opas mögen noch vage von einer „Sehnsucht“ echten Ursprungs angefacht sein, doch sind irgendwie verneinend, vernichtend; der Vater und die Mutter stehen doch weitestgehend als Heuchler da, denen es um Geld, Ansehen, Macht geht etc.

Ein Schlüssel zum Verstehen Gyuris ist die (universale) Sehnsucht nach der unentgeltlichen, nicht bedingten Liebe „um seiner selbst willen“, nicht als Zweck, als Mittel oder Spiegel seiner Selbst. Er erlebt dies nicht: alles wird ihm zum Vorwurf, zur Erniedrigung. Schon lange vor den körperlichen Schlägen empfindet er sich als Ausgestoßener und Außenseiter in seiner eigenen Familie. Insofern ist Gyuri in seiner Suche und seinem Leiden ein Bild für das Absolute. Er drückt dies selber sogar wortwörtlich aus, dass er auf der „Suche nach der vollkommenen und bedingungslosen Zuneigung“ ist. Wenn am Ende dieses Buches nach einer Zeit als Bettler eine Art Rückkehr ins Haus bevorsteht, so ist das nicht eine Art wirklicher Zustimmung, sondern eher eine erzwungene Verinnerlichung der Stimme des Vaters, der Autorität. Der anscheinende Friede am Ende erscheint als Verleugnung und dauernde Vertuschung eventueller Sorgen, Fragen, Probleme. Feigheit, Angst, Vergessen und Krankheit scheinen die erwünschten Umgehensweisen mit den absoluten Fragen zu sein.


Um ein kleines Urteil zu den „Thesen“ des Buches zu geben:
Zunächst mal gibt es kein „Aber, aber, wie kann Pap so scheinbar blasphemisch schreiben“. Nein, Menschen haben Religion oft so erfahren und vermittelt bekommen. Zweifelsohne deckt Pap mit seinen sehr guten psychologischen Analysen ein weites Spektrum von „geistigen Pathologien“ auf. Man hört förmlich den Wunsch nach einer unentgeltlichen Liebe. In dieser (universalen) Suche nach dem Absoluten kann Pap auch als Sprecher einer Grunderfahrung gerade des jüdischen Volkes verstanden werden! Doch da ist die Gegenerfahrung einer Religionszugehörigkeit, die auch rein gar nichts mehr mit etwas wirklich Lebendigem zu tun haben scheint. Juden, Christen, wie wohl Angehöriger jeder Religion müssen sich fragen lassen, wann und wo irgendwelche Gesetze sich verselbständigt haben oder aber der Mensch aus den Augen geraten ist. Deutlicher denn je müsste man dem entgegenstellen, dass man sich einerseits kein Bildnis von Gott machen sollte, bzw. andererseits dieser Gott nicht die schreckliche strafende Figur ist, die anscheinend immer noch durch die Köpfe schwirrt. Und natürlich wird die persönliche Erfahrung eines Gyuri und die Analyse Paps nicht allen Erfahrungen gerecht, die Menschen AUCH mit einem wahrhaft befreienden und lebendigen Glauben gemacht haben.
tom
 

Beitragvon wolves » 28.11.2008, 08:58

Ein sehr schöner Beitrag, Tom :clap: Da freue ich mich ja noch mehr auf meinen eigenen Eindruck und Lektüre :D
Liebe Grüße
wolves


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