Wir Immoralisten! – Diese Welt, die uns angeht, in der wir zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des »Beinahe« in jedem Betrachten, häklig, verfänglich, spitzig, zärtlich: ja, sie ist gut verteidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde! Wir sind in ein strenges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und können da nicht heraus –, darin eben sind wir »Menschen der Pflicht«, auch wir! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern »Ketten« und zwischen unsern »Schwertern«; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen tun, was wir wollen: die Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns »das sind Menschen ohne Pflicht« – wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns!
(aus Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse)
Nietzsche behauptet, die Moral verneine das Leben, weil sie den Menschen in seinen Handlungen beschneidet. Die Moral ist ein Regelwerk, um das Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Der Immoralist hingegen widersetzt sich diesen Normen, er handelt rein egoistisch, nach seinen Bedürfnissen.
André Gide nimmt dieses Thema auf, in Form des Ich-Erzählers Michel, der nach einer schweren Krankheit das Leben lieben lernt. Vorher lebte er trotz Reichtum bescheiden, um seinen sterbenden Vater zu beruhigen, vermählt er sich mit Marceline. Aus freundschaftlicher Sympathie wächst Liebe, Aus Liebe entsteht ein neues Lebensgefühl.
„Seltsam, der erste Blutsturz hatte mich nicht so beeindruckt; ich erinnerte mich nun, dass er mich fast unberührt gelassen hatte. Woher kam dann jetzt meine Angst, mein Entsetzen? Ach, ich begann das Leben zu lieben! Daher kam es.“
Sie ziehen um auf einem gewaltigen Weingut in der französischen Provence, Michel lässt sich von seiner Frau pflegen, genießt das Leben in der Natur. Er findet Freunde in den jungen Söhnen seiner Pächter, lässt sie nach Hause kommen, er bewundert ihre Schönheit und Frische. Vor allem die lasterhaften Jungs haben es ihm angetan. Er schließt sich ihnen an, um gemeinsam auf seinem eigenen Grundstück zu wildern. Seine Freude über unmoralische Tätigkeiten beflügelt ihn.
„Vielleicht fiel mir dieser Zwang zur Lüge anfangs ein wenig schwer; aber ich kam schnell dahinter, dass die Dinge, die man für die schlimmsten ausgibt (die Lüge, um nur dieses eine zu nennen), nur schwierig sind, solange man sie nicht getan hat; dass aber jedes durch Wiederholung sehr schnell leicht, angenehm, köstlich und bald selbstverständlich wird.“
Vermehrt sucht er Gefallen an materiellen Dingen, die, anfangs noch unbedeutend, immer wichtiger erscheinen. Er sucht nach neuen Sinneswahrnehmungen, nach Glückseligkeit, doch ist er nicht imstande diese umzusetzen. Die wachsende Unruhe verhindert, dass er sich einer Tätigkeit hingeben kann. Er wechselt immer häufiger seinen Wohnort, fühlt sich gedrängt weiter zu ziehen, aus Angst, etwas zu verpassen. Dass seine Frau schwer erkrankt, interessiert ihn nicht. Ohne Rücksicht reist er von Ort zu Ort, opfert sie um sein Glück zu finden. Im Orient schließlich lebt er seine homosexuellen Phantasien aus, eine weitere Geste wider die Moral, die ja vom Christentum geprägt ist. So irrt er durch die Lande, frei von jeglichen Konventionen, doch seine erlangte Freiheit quält ihn, erdrückt ihn.
„Manchmal scheint mir, als hätte mein eigentliches Leben noch gar nicht begonnen. Reißt mich jetzt hier heraus, und gebt meinem Dasein einen Sinn. Ich selbst weiß keinen mehr zu finden. Ich habe mich befreit, das ist möglich; aber was bringt das? Ich leide unter dieser untätigen Freiheit. Glaubt nicht, dass ich meines Verbrechens müde wäre, wenn ihr es so zu nennen beliebt, aber ich muss mir selbst beweisen, dass ich mein Recht nicht überschritten habe.“
Gide demonstriert am Beispiel von Michel, dass die absolute Freiheit keine endgültige Befreiung bedeutet. Ohne höheren Zweck ist man verloren, ohne Halt, ohne Sinn. Die Moral dient hier als Brüstung, um nicht definitiv den Halt zu verlieren und in die Sinnlosigkeit abzustürzen.
Gruß,
chip